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# taz.de -- Sprachenvielfalt in Europa: Wir verstehen uns
> Über 200 Sprachen und Dialekte werden in Europa gesprochen. Diese
> Vielfalt muss vor der wachsenden Sehnsucht nach Einfachheit geschützt
> werden.
Bild: Schweigen ist keine Option, man muss nicht jede Sprache beherrschen, um m…
Laut der automatischen Vervollständigung der Google-Suche ist Europa „die
antwort“, „wie ein fahrrad hält man es an fällt es um“, „für mich“…
hauptstadt von deutschland“, „bunt“, „unsere zukunft“ und „am ende�…
bis auf Vorschlag Nummer vier ist vermutlich alles davon ein bisschen wahr.
Mich macht Europa oft sprachlos. Wie soll man auch die richtigen Worte
finden für die Gleichzeitigkeit von Frieden, Freiheit und toten Menschen im
Mittelmeer? Wie der Nationalstaat ist auch der europäische Kontinent nicht
wirklich greifbar. Europa muss man sich vorstellen, es ist ein Konstrukt
und damit zu komplex, um es in (wenige) Worte zu fassen. Bitte füllen Sie
aus: [1][Europa ist _____]. Ein Lückentext mit viel zu kurzem Strich, über
den man eine Lösung quetschen soll.
Aber jede Metapher für Europa ist gefunden, jeder Wahlslogan verbraucht.
Allein die deutsche Sprache besteht laut Duden aus knapp 23 Millionen
Wörtern. Das sind 23 Millionen Wörter und noch viel mehr Kombinationen, die
zur Verfügung stehen, um Europa zu beschreiben. Wir brauchen sie alle und
sie sind trotzdem nie genug. Was also tun? Sollten wir lieber gar nichts
sagen als nie so ganz das Richtige?
Komplexitätsreduzierung ist ein sperriges deutsches Wort, das den Zeitgeist
zu treffen scheint. Wir können alles wissen, aber nichts mehr aufnehmen.
Wir sehnen uns nach Filtern, nach personalisierten Angeboten, nach
Selektion. Das Bedürfnis nach weniger hat längst die vollgestopften
Schubladen derer erreicht, die sich fast alles leisten können. Was keinen
Joy sparkt, muss gehen: weiße Wände und leere Räume als klosterhafter
Rückzugsort vor der nicht enden wollenden Flut äußerer Eindrücke. Das
Kondo-Prinzip funktioniert auch prima für zwischenmenschliche Beziehungen:
Wer uns nicht glücklich macht, wird freundlich, aber bestimmt
verabschiedet. Ähnliches passiert in der Politik. Das süßeste Versprechen
lautet längst: Die Welt ist viel zu komplex, aber wir geben euch einfache
Antworten und eindeutige Etiketten.
Hier wird Sprache zu Erzählung und zum Instrument für Macht. Nenne einen
Menschen Flüchtling, und du kannst ihn zuallererst als Flüchtling
behandeln und nicht mehr als Menschen. Das funktioniert auch mit Worten
wie Migrant:in, Lügner:in, Nazi. Es ist stumpf und gefährlich, aber eben
endlich nicht mehr kompliziert.
## Europa braucht kein Esperanto
Die EU einfacher zu machen steht seit Jahren auf der politischen Agenda.
Dieser Verbund aus 28 Mitgliedsstaaten mit 24 gleichberechtigten
Amtssprachen ist allerdings gerade deshalb so zugänglich, weil er sich
seine sprachliche Vielfalt erhält, weil er sie nicht eindampft.
Vielsprachigkeit gehört zur EU, besonders deutlich wird das im Europäischen
Parlament. Weil alle EU-Bürger:innen sich dort hineinwählen lassen dürfen
und ihre Teilhabe auch ohne Fremdsprachenkenntnisse gewährleistet sein
muss, wird im Akkord gedolmetscht und übersetzt. Hier ist Sprache
Schlüssel, Mittel zum gemeinsamen Zweck.
Die Frage nach dem Umgang mit vielen verschiedenen Sprachen ist nicht neu
für Europa. Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte der Augenarzt Ludwik
Leijzer Zamenhof „Esperanto“, eine konstruierte Sprache, die sich an Latein
und romanischen Sprachen, aber auch an germanischen, slawischen und
griechischen Wörtern orientiert. Zamenhof erhoffte sich einfachere
Kommunikation und glaubte daran, dass eine „neutrale“ Sprache Rassismus
verhindern und Weltfrieden schaffen könnte. Eine konstruierte Sprache
müsste von allen gleichsam neu erlernt werden. Und anders als Englisch,
Französisch oder Deutsch trägt Esperanto keine kolonialen Altlasten mit
sich herum. Vor dieser Sprache wären, so die Idee, alle gleich. Alle
müssten die gleichen Mühen und Ressourcen aufwenden, um Esperanto zu
erlernen.
Zamenhof wäre heute gewiss enttäuscht: Laut Schätzungen sprechen etwa 2
Millionen Menschen Esperanto. In Europa leben fast 750 Millionen Menschen.
Seine Vision einer neuen europäischen Sprache ist somit gescheitert – doch
dieses Scheitern macht Sinn.
Europa braucht kein Esperanto, jedenfalls nicht um der Verständigung
willen. Wir verständigen uns längst, mit Händen und Füßen, mit Kreativität
und Anstrengung. Dabei spricht Europa Gebärdensprache, Dialekte und
Programmiersprachen. Wir reden im Slang und Fachjargon und erfinden ständig
neue Wörter, die noch in keinen Büchern stehen. Sprachen, die außerhalb
Europas entstanden sind, prägen für viele Europäer:innen Alltag und
Identität. Sprache entwickelt sich weiter und fordert uns heraus. Trotz
vieler Widerstände wird sie sensibler, präziser, inklusiver. Und nicht
zuletzt spricht Europa in Bildern, in Kunst und Musik, oder mit seinen
Körpern.
## Gar nichts zu verstehen tut weh, tut aber auch gut
Das komplizierte Europa ist multilingual – und wie schön ist die
Vorstellung, dass es in dieser Menge für jedes noch so ungleiche Paar eine
gemeinsame Sprache gibt? Wir müssen also nicht jede Sprache beherrschen, um
miteinander zu reden.
Ich glaube sogar, manchmal gar nichts zu verstehen tut weh, tut aber auch
gut. Aus Missverständnissen entstehen die besten Anekdoten. Sie lehren uns
viel über unser Gegenüber und uns selbst, sobald wir sie als solche
erkennen. „Wie meinst du das?“ ist nicht ohne Grund eine der spannendsten
Fragen. Vieles ist oft so anders gemeint, als es im ersten Versuch
dahingesagt wird. Verständigung lebt von Irritationen und Mehrdeutigkeiten.
Und von dem Interesse der Gesprächspartner:innen aneinander. Mit Europa
ist es ganz ähnlich.
Deswegen fülle ich den Lückentext heute gern so aus: Europa ist 复杂. Falls
Sie kein Chinesisch verstehen, wissen Sie gewiss, [2][was zu tun ist].
26 May 2019
## LINKS
[1] https://www.google.com/search?q=Europa+ist
[2] https://translate.google.com/op=translate&sl=auto&tl=de&text=复&%23x6…
## AUTOREN
Lin Hierse
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