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# taz.de -- Aleida Assmann über Europa: „Etwas Großartiges geschafft“
> Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann plädiert für ein polyphones
> Erzählen in Europa. In der EU brauche es jetzt den Willen zu einer
> gemeinsamen Erinnerung.
Bild: „Das Gute an diesem Europa ist doch, dass man es gemeinsam gestalten ka…
taz: Frau Assmann, kurz vor den Europawahlen befürchten viele das Erstarken
der extremen Rechten – aber Sie haben einen europäischen Traum.
Aleida Assmann: So würde ich es nicht formulieren. Sprechen wir lieber vom
europäischen Projekt, um von dieser Vagheit, der idealistischen Spinnerei,
die mit dem Wort Traum zusammenhängt, wegzukommen. Ein Projekt muss von
Bürgern durchgesetzt werden, und das kann nur unter bestimmten
Voraussetzungen funktionieren.
Der amerikanische Politikwissenschaftler Benedict Anderson hat die Nation
als „imaginierte Gemeinschaft“ beschrieben. Gilt das auch für Europa?
Ich glaube schon, dass sich Gesellschaften als ein Ganzes imaginieren
können. Und so wie es ein Leitbild einer Stadt geben kann, kann es auch ein
Leitbild Europas geben.
Wie kann denn ein europäisches Leitbild aussehen?
Ich habe vier konkrete Lehren zusammengestellt, die die Europäer aus ihrer
Geschichte gezogen haben: Friedenssicherung, Demokratisierung,
selbstkritische Erinnerungskultur und Menschenrechte.
Wie steht es um den europäischen Frieden?
Friedenssicherung – das ist ja schon fast eine leere Formel geworden. Aber
die Friedenssicherung nach 1945 war alles andere als selbstverständlich.
Die Gründer Europas haben etwas Großartiges geschafft: Sie haben
„Schwerter“ – die Kriegsindustrie – in „Pflugscharen“ – eine
Wirtschaftsgemeinschaft – verwandelt. Friedenssicherung ist heute eine
selbstkritische Norm, an der sich Europa messen lassen muss.
Es zeigt sich immer wieder, dass Ost- und Westeuropa sehr unterschiedliche
Vorstellungen von Europa haben.
Es wurden im Osten und Westen sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht.
Ein Land wie Deutschland hatte in seiner Geschichte zu viel Nationalismus
und möchte das jetzt möglichst zurückschrauben. Andere Länder wie Polen
hatten keine Chance, sich als Nation zu verwirklichen, sie verschwanden von
der Landkarte oder wurden lange besetzt. Diese Länder brauchen Europa, um
mehr Nation sein zu können.
Ivan Krastev, der bulgarische Politologe, sagt, dass es für die
postkommunistischen Staaten nach 1989 einen „Nachahmungsimperativ“ gab, mit
erniedrigenden Folgen.
Manche sehen die Entwicklung der EU nach 1989 nur als ein imperiales
Projekt. Das ist problematisch, weil es eine sehr einseitige, negative
Erzählung ist. Wenn man Ressentiments beschreibt, muss man darauf achten,
sie damit nicht weiter zu schüren. Die Menschenrechte zum Beispiel wurden
den osteuropäischen Staaten nach 1989 nicht einfach aufs Auge gedrückt.
Dieses Europa, das wir heute retten wollen, wurde auch von den Dissidenten
in den kommunistischen Regimen erkämpft. Das war keine Fremdbestimmung,
sondern auch ihre europäische Geschichte, die man heute nicht verdecken
sollte.
Ist Erinnerung per se etwas Gutes?
Natürlich nicht. Erinnerung ist immer selektiv und kann politisch
instrumentalisiert werden. Man kann sich heraussuchen, was die eigenen
Ziele fördert. In Italien etwa war der 25. April ein wichtiger nationaler
Feiertag, an dem man die Befreiung vom Faschismus 1945 gefeiert hat. Dieser
Tag wurde 2019 das erste Mal nicht mehr gefeiert. Die Erben der Faschisten
wollen sich heute an diese Niederlage nicht mehr erinnern lassen.
Wenn es auf nationaler Ebene schon schwierig ist, wie soll man
unterschiedliche Geschichtsschreibungen in Europa zusammenbekommen?
Wir brauchen eine polyphone Geschichtsschreibung in Europa, es kann nicht
die eine gültige Erzählung von Europa geben. Diese Geschichten müssen aber
anschlussfähig bleiben, und sie müssen von einem gemeinsamen Ethos getragen
sein.
Wie meinen Sie das?
Einem Ethos zum Beispiel, dass wir froh sind, den Zweiten Weltkrieg hinter
uns gelassen zu haben. Der Kult des Krieges, die Vermännlichung der
Gesellschaft, die Betonung von Gewalt, das Marschieren in Uniformen, all
das hörte nach dem Ersten Weltkrieg ja nicht auf und kann immer wieder
abgerufen werden – davon müssen wir uns distanzieren.
Soll die EU langfristig die Nationalstaaten ablösen?
Ganz gewiss nicht! Das Großartige an der EU ist doch, dass sich
unterschiedliche Nationen mit einer unglaublich destruktiven Geschichte
zusammengetan haben für Demokratie, Gewaltenteilung, Menschenrechte und
Vielfalt. Dennoch behält jede Nation ihre eigene Sprache, Geschichte oder
Kunst, alles Dinge, für die es keine strikten Grenzen gibt. Menschen müssen
lokal verankert sein, sie können nicht auf einer abstrakten europäischen
Ebene leben. Selbst die nationale Ebene ist ziemlich abstrakt, sie leben in
persönlichen Beziehungen in Städten und Nachbarschaften.
Menschen können sich aber abstrakt bedroht fühlen – zum Beispiel durch
Migrationsbewegungen.
Durch Modernisierung, Markt und Globalisierung verschieben sich die
Verhältnisse in einer tiefgreifenden Weise, zum Beispiel, wenn China
plötzlich Besitzer des wichtigsten Mittelmeerhafens ist. Es gibt zusätzlich
eine neue Mobilität innerhalb Europas und Menschen, die nach Europa
flüchten, weil sie woanders nicht mehr überleben können. All das greift
gegenwärtig ineinander und erzeugt tiefe Unsicherheit.
Beim Thema Migration sollte eine europäische Lösung gefunden werden, aber
dagegen sperren sich viele Länder.
Vor zwanzig Jahren haben sich Sozialwissenschaftler wie Niklas Luhmann die
Zukunft noch so vorgestellt: Modernisierung erfasst die ganze Welt,
Nationen werden obsolet und lösen sich in einer Weltgesellschaft von
alleine auf. Globalisierung war ein positiv besetzter Begriff. Diese
Erwartungen haben sich nicht erfüllt. In Europa passiert gerade das
Gegenteil. Nationen pochen auf ihre Stärke und wollen den Rechtsstaat
hinter sich lassen. Aber: Es gibt noch überall starke
zivilgesellschaftliche Bewegungen, die zeigen, dass sie in einer
demokratischen und diversen Nation leben wollen.
Sie fordern in Ihrem neuen Buch eine stärkere Auseinandersetzung mit der
Kolonialgeschichte. Warum ist das wichtig für Europa?
Erinnerungen sind immer nur periodisch präsent und fallen auch wieder weg,
es sei denn man gibt ihr einen staatlichen Rahmen als Gründungserzählung,
wie zum Beispiel die Erinnerung an den Holocaust. Dafür brauchte
Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg vier Jahrzehnte und einen
Generationenwechsel. Im Falle von Deutschland lagen die Verbrechen für alle
Augen offen zutage. Andere Nationen konnten längere Zeit Versteck spielen,
wenn es um die Frage der Kollaboration ging. So ist es auch mit der
Kolonialgeschichte. Unsere Nachbarn halten mit Nationalstolz an dieser
Geschichte fest und versuchen, die Verbrechen zurückzuhalten.
Aber postkoloniale Bewegungen versuchen Druck aufzubauen.
Es wurde schon viel recherchiert und erzählt, aber was jetzt noch fehlt,
ist der Wille zu einer gemeinsamen europäischen Erinnerung. Darin müssen
die Erinnerungen der Opfer einen Platz haben – neben denen der Täter.
Können Sie ein Beispiel geben?
In Amerika gibt es bis heute kein Museum, das die Geschichte der Sklaverei
so erzählt, dass die Weißen darin eine Rolle spielen. Es gibt sie nur als
Geschichte für die Schwarzen. Man kann nämlich Opfergruppen so
ghettoisieren, dass man sich damit von der gemeinsamen Geschichte befreit.
Das europäische Ziel ist, zu einer inklusiven Erinnerung zu kommen. Ich
nenne es dialogisches Erinnern. Das würde Europa in der globalisierten Welt
auch viel besser verankern.
Welche Erwartungen haben Sie an die Europawahlen?
Ich hoffe auf eine große Beteiligung. Das Gute an diesem Europa ist doch,
dass man es gemeinsam gestalten und verbessern kann. Ich hoffe, den
Menschen ist klar, wie schnell dieses kostbare Gut wieder verloren gehen
kann.
21 May 2019
## AUTOREN
Jasmin Kalarickal
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