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# taz.de -- Debatte Political Correctness: Wir müssen streiten
> Die Debatte um den Berliner Historiker Jörg Baberowski polarisiert. Doch:
> Moralisches Sektierertum sollten wir den Rechten überlassen.
Bild: Ort des Disputs: die Humboldt-Universität in Berlin
Zum Chor der Stimmen, die eine kulturelle Hegemonie der Linken in unserer
Gesellschaft beklagen, gehört auch die des Historikers Jörg Baberowski,
zumindest [1][laut einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung]. Er
gehört zur Clique jener „alten, weißen Männer“, die überall im öffentl…
Raum wichtige Posten besetzen. Ein kluger, interessanter Wissenschaftler,
aber nicht unbedingt ein linker Sympathieträger. Ein [2][langer Artikel der
taz am Wochenende] beschäftigte sich mit Angriffen auf ebenjenen Professor
durch eine trotzkistische Studierendengruppe. Darf man jemandem so viel
Platz in einer Zeitung, die sich als links versteht, einräumen?
Selbstverständlich. Wir müssen uns in der Berichterstattung an den
gesellschaftlichen Konfliktlinien abarbeiten, in die Kampfzonen gehen,
Widersprüche benennen, herausarbeiten. Ohne Vorverurteilung. Ohne
Berührungsängste. Alles andere wäre Selbstvergewisserung und
Besserwisserei. Aufklärung ist das Credo der Linken. Recherche ist
journalistisches Handwerk. Auch wenn wir für die Interessen der sozial
Benachteiligten eintreten und nicht für die eines Bankdirektors.
Moderne Gesellschaften, aber vor allem Linke, haben einen hohen Demokratie-
und Gleichheitsanspruch. Das ist gut so: Rassismus ist verpönt, die
Gleichstellung von Frauen, Lesben, Schwulen und anderen
selbstverständliches Ziel, religiöse und kulturelle Vielfalt das Gebot der
Stunde. Aber es ist wenig aufklärerisch und für den Journalismus geradezu
kontraproduktiv, Widersprüche der Realität, die diesen hehren Zielen
entgegenstehen, auszublenden.
Etwa im Namen einer schwammigen Political Correctness. Die Bewegung einer
„politischen Korrektheit“ entstand in den 1980er Jahren im Rahmen von
Antidiskriminierungsbestrebungen der Neuen Linken in den USA. Die Bewegung
hat ihre Wurzeln an den US-Universitäten. Auch sprachlich sollten Menschen
aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer ethnischen,
nationalen oder religiösen Zugehörigkeit, ihrer sozialen Stellung, ihres
Alters oder aufgrund einer Behinderung nicht beleidigt und zurückgesetzt
werden. In der Annahme einer engen Verbindung von Sprache, Denken und damit
Handeln entstanden so Sprachreglementierungen, die zum einen den Gebrauch
bestimmter Ausdrücke ächten, zum anderen eine neue, „feinfühligere“
Terminologie vorschlagen oder vorschreiben.
## Neue Tabus
Über diesen angestrebten Sprachwandel soll ein Bewusstseinswandel und
idealerweise auch eine kulturelle Veränderung weg von der kritisierten
Diskriminierung erreicht werden. So entstehen aber auch neue Tabus: Was
nicht ins Bild der Gesellschaft oder der guten Absicht passt, wird
verschleiert. Verstöße werden mit Ächtung belegt.
Sprachkritik ist sinnvoll, Feinfühligkeit wünschenswert. Doch Achtsamkeit
kann zum Tunnelblick werden, Ironie schnell zur Beleidigung. Moral schlägt
Analyse, die Diskussion wird entpolitisiert: „Bilder werden abgehängt,
Kunstwerke zensiert, Gedichte übermalt. Prüderie und radikale
Schuldzuweisung greifen um sich. Aufklärung bekämpft im Zeitalter der
Migration sich selbst. Was darf die Kunst heute noch thematisieren?“, fragt
die Autorin Viola Roggenkamp.
Was dürfen wir thematisieren? Kritiker werden schnell des Rassismus
verdächtig, wenn sie wie Journalisten in der Hochphase der
Willkommenskultur auf Probleme der Zuwanderung hinweisen oder auf
anstehende Verteilungskämpfe – wie aktuell die Diskussion um die Essener
Tafel zeigt. Ihr Einspruch könnte ja den Gegnern von Zuwanderung, also den
Rechten, zuspielen.
Wenn Alice Schwarzer beispielsweise nach der Kölner Silvesternacht 2015/16
von „entwurzelten, brutalisierten und islamisierten jungen Männern
vorwiegend aus Algerien und Marokko“ spricht, so ist diese Aussage nicht
unbedingt falsch: Es gibt viele Männer aus dem Maghreb, Illegale, die
ziellos durch Europa mäandern und dabei immer weiter verrohen – die
Täterlage zu Köln dazu war relativ klar. Warum also der Aufschrei?
## Widersprüche benennen
Wir sollten über die Probleme, die Migration mit sich bringt, genauso
schreiben wie über die Schwierigkeiten der Integration. Es ist besser, über
Ängste und Vorurteile zu sprechen, statt sie zu verdrängen oder zu
stigmatisieren, weil sie dem eigenen Ideal nicht entsprechen. Wir sollten
uns streiten über die Untiefen des Islam, ohne gleich der „Islamophobie“
oder des Rassismus verdächtigt zu werden, über israelische Siedlungs- und
Besatzungspolitik, ohne gleich des Antisemitismus bezichtigt zu werden.
Wir müssen reden, nachhaken, genau sein, die Widersprüche benennen.
Vorauseilender Gehorsam, politische Grundgewissheiten bringen weder
intellektuellen Zugewinn noch Problemlösungen. Im Gegenteil, sie überlassen
das Feld anderen, die diese Themen für ihre Interessen funktionalisieren.
Diese Steilvorlage sollte man den Konservativen mit ihrer Kritik an der
angeblichen linken kulturellen Hegemonie nicht bieten: Alles, was die
68er-Generation als Werte angestoßen hat – sexuelle Toleranz, Vielfalt,
Befreiung – wird damit abgewertet. Nicht nur bei den Rechten, auch im
Mainstream, bei der Bevölkerung. Dabei sind die einst gegenkulturell
formulierten Ideale wie Autonomie, Emanzipation, Eigenverantwortung,
Freiheit, Kreativität längst schon vom kapitalistischen System vereinnahmt
worden.
„Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse,
seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner
religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt
werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Dieser
Satz – Grundgesetz, Artikel 3, Absatz 3 – ist, wenn auch ungegendert, ein
guter Leitfaden für Political Correctness. Moralisches Sektierertum,
Gewissheiten, schlichte Wahrheiten überlassen wir gern weiterhin den
Rechten.
Lesen Sie zu dieser Debatte auch den Beitrag von Ambros Waibel [3][„Jede
Menge Märchen“]
15 Mar 2018
## LINKS
[1] https://www.nzz.ch/feuilleton/meinungsfreiheit-die-linke-macht-den-menschen…
[2] /Studierende-gegen-Berliner-Uni-Professor/!5485962
[3] /Debatte-Political-Correctness/!5489158/
## AUTOREN
Edith Kresta
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