| # taz.de -- Theaterpremiere von EU-Roman: Wenn Europa kotzen könnte | |
| > Robert Menasses Roman „Die Erweiterung“ zeichnet die Karikatur einer | |
| > zerstrittenen EU. Das Theater Mannheim findet für die Bühne starke | |
| > Bilder. | |
| Bild: Einigkeit sieht anders aus. Dekonstruierte EU-Symbole auf der Mannheimer … | |
| Wie schön das doch wäre: Die Regierungschefs der EU-Staaten fänden sich auf | |
| einem Schiff wieder, das in aller Einigkeit einen Kurs einschlägt, ganz so, | |
| als sei sämtliche Kleinstaaterei überwunden. Was nach einem Sinnbild | |
| klingt, wird zumindest in Robert Menasses zweitem Roman seiner | |
| Europatrilogie, [1][„Die Erweiterung“,] Realität. | |
| Die einzige Krux: Die Akteure handeln keineswegs gemeinschaftsorientiert. | |
| Albanien, einer der langjährigen Beitrittskandidaten, wird dabei zum | |
| Spielball nationaler Egoismen. Allen voran Polens rechtspopulistischer | |
| Präsident nutzt nämlich die Gunst der Stunde, um mittels außenpolitischer | |
| Trickserei die Beliebtheitswerte im eigenen Land zu steigern. Was soll | |
| schließlich ein partiell muslimischer Staat in einer westlichen Union? | |
| Dass sich wiederum [2][sein albanischer Kollege] dieses Manöver nicht | |
| gefallen lässt, ist klar, sodass auch er einen provokativen Schachzug | |
| wählt. Nun schwadroniert er öffentlich von einem „Großalbanien“ und wäh… | |
| als sichtbarstes Zeichen für seinen Vorstoß den Helm des wichtigsten, | |
| christlichen Befreiungskämpfers des Landes, nämlich des mittelalterlichen | |
| Helden Skanderbeg. | |
| ## Herkulische Aufgabe | |
| Man könnte diese verwinkelte Geschichte noch weiterführen, die der Autor so | |
| spielerisch wie grotesk erzählt. Nachdem sich somit schon der literarische | |
| Text als hochkomplex erweist, sieht sich eine Bühnenadaption mit umso mehr | |
| Herausforderungen konfrontiert. | |
| Am Nationaltheater Mannheim hat man sich dennoch dieser herkulischen | |
| Aufgabe angenommen – und ist etwas ins Stolpern geraten, weil man sich zu | |
| sehr am Plot von Menasse abarbeitet. Viele Rollenwechsel auf der Bühne | |
| zeichnen zwar das dichte Personaltableau der Vorlage nach, sorgen aber für | |
| Desorientierung im Publikum. | |
| Gleichzeitig scheint diese diffuse Form stimmig für ein Panorama der oft | |
| gespaltenen EU. Immer wieder ziehen sich die Schauspieler:innen an | |
| einem Kleiderständer im Hintergrund um, ändern damit Haltungen und | |
| Positionen, womit sie die Wankelmütigkeit so mancher Regierungschefs auf | |
| den realen Gipfeltreffen widerspiegeln. | |
| Zwischen alledem führt ein Erzähler (charmant: Matthias Breitenbach) durch | |
| den Abend. Er versucht die Fäden zusammenzuhalten. Mal bewegen wir uns in | |
| Albanien, wo ein Dichter dem Regierungschef kriminelle und imperiale | |
| Fantasien einflüstert, mal in Polen, wo ein Jugendfreund des polnischen | |
| Regierungschefs über dessen rechtskonservativen Drall verzweifelt. | |
| Verkörpert wird Letzterer grandios von Paul Simon. Im Wolkenauto ankommend, | |
| redet er sich in einen regelrechten Hass-Schwall hinein und wütet (sehr | |
| unterhaltsam!) mit einer Axt über das Parkett – ein starkes Bild für eine | |
| Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand-Politik, das die Zuschauer:innen sogar mit | |
| einem Szenenapplaus belohnen. | |
| ## Visionen und Fantasien | |
| Viel Aktion also im von Martha-Marie Pinsker entworfenen Bühnenraum. Wir | |
| schauen auf eine gänzlich hellblaue, quadratische Kulisse. Darüber einige | |
| Schäfchenwolken. Idyllisch, könnte man sagen. Wenn die Reling aufgebaut und | |
| der Schiffsschornstein ins Zentrum gefahren wird, erinnert der farbliche | |
| Hintergrund natürlich an das Meer und den Horizont. Ebenfalls soll man hier | |
| an das zumindest im Programmheft erwähnte „[3][Schiff der Träume“] von | |
| Federico Fellini denken, das in der Inszenierung allerdings kaum mehr von | |
| Relevanz ist. | |
| Darüber hinaus lässt das Setting Assoziationen zu einem Bluescreen von | |
| Nachrichtensendungen zu. So wie er für filmische Einspieler gebraucht wird, | |
| so kann man auch die EU insgesamt als eine Projektionsfläche für diverse | |
| Visionen und Fantasien ansehen. | |
| Darf am Schluss dann noch der gelbe Sternenkranz der Union vor dem Blau | |
| schimmern? Die 1989 geborene Anna-Elisabeth Frick, eine der talentiertesten | |
| Regisseurinnen ihrer Generation, bedient sich gern dieses Symbols. Während | |
| es zuletzt ähnlich einem Ufo über allem schwebt, herrscht darunter das | |
| blanke Chaos. Auf dem Schiff hat sich ein Magen-Darm-Virus ausgebreitet, | |
| der die sich erbrechenden Ego-Player dahinrafft. | |
| ## Beethovens 9. Sinfonie | |
| Inmitten sämtlicher umgeworfener Requisiten – vom Spielzeughund mit | |
| Wischmoppfell bis zu Holzrosen – liegen die Darsteller:innen am Boden. | |
| Treffender könnte man einen Staatenbund im Siechtum gar nicht in Szene | |
| setzen. | |
| Dazu erklingt kaum hörbar von einer Violine die Europahymne aus Beethovens | |
| 9. Sinfonie. Sie, ein Ruf aus einer verschütteten Vergangenheit, verhallt | |
| im Nichts. Oder ist sie doch eine leise Melodie der Hoffnung? Es bleibt | |
| offen, genauso wie der Ausgang von Menasses Trilogie. Diese furiose | |
| Premiere lässt Vorfreude aufkommen auf deren noch nicht erschienenen | |
| dritten und letzten Part. | |
| 26 May 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Björn Hayer | |
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