# taz.de -- Debatte EU und Nationalismus: Tod der Nation, es lebe Europa | |
> Frieden in Europa kann es nur geben, wenn die Nationen ihre Souveränität | |
> aufgeben. Das ist auch das Ziel der EU – nur haben wir es vergessen. | |
Bild: Was ist die EU? Ein Friedensprojekt – das geht aber nur, wenn es keine … | |
Hegel sagte einmal: „Der Mensch stirbt auch aus Gewohnheit.“ Er bezog sich | |
damit auf den Menschen als politisches und soziales Wesen. Lebt er in der | |
Gewohnheit des Alltags und geht ganz darin auf, sein Leben zu fristen, dann | |
setzt dieses „Sterben aus Gewohnheit“ ein, die soziale Angst und „das | |
Zittern vor gesellschaftlichem Tod“. | |
Diese Stelle aus den „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ beschreibt | |
präzise den gegenwärtigen sittlichen Zustand der Europäischen Union, in dem | |
sich Gewohnheitsrecht wieder über Menschenrecht setzen will und der | |
tatsächlich ein Zustand ist, weil er den Prozess der europäischen Einigung | |
gestoppt hat. Was sich hier noch bewegt, ist blanke Zukunftsangst, die sich | |
in Ressentiment entlädt. | |
Dabei war noch vor einem halben Jahrhundert die Zukunft so schön. Das | |
Zukunftsbild, das damals von den Gründern des europäischen | |
Einigungsprojekts entworfen wurde, war ein Meisterwerk pragmatischer | |
Vernunft im Geist der Aufklärung. Es machte grundsätzlich die | |
Menschenrechte und konkret die menschlichen Bedürfnisse nach Frieden, | |
sozialer Sicherheit, Lebenschancen und Partizipationsmöglichkeiten am | |
gesellschaftlichen Leben zur Richtschnur des politischen | |
Gestaltungswillens. Es war ein Projekt des Lebens in Würde. | |
„Das Einigungswerk, das wir begonnen haben und an dem wir täglich arbeiten, | |
ist keine schemenhafte Idee, die da aufs Geratewohl in die Zukunft | |
hineinprojiziert worden ist, kein nebelhafter Traum. Es ist vielmehr | |
Wirklichkeit, weil es an den Realitäten Europas orientiert ist“, sagte 1964 | |
Walter Hallstein, der erste Präsident der Europäischen Kommission, in einer | |
viel beachteten Rede in Rom. Man kommt aus dem Staunen nicht heraus, wenn | |
man Hallsteins Rede heute liest. Zugleich kann man auch klarer | |
nachvollziehen, woher die Sterbensangst so vieler Europäer vor Europa | |
kommt. | |
## Den Nationalismus entkernen | |
Die Gründer des europäischen Einigungswerks hatten den Aggressor klar | |
benannt, der die Infrastruktur des Kontinents zerstörte, Elend für | |
Generationen produzierte und die grauenhaftesten Menschheitsverbrechen zu | |
verantworten hatte. Dieser Aggressor war der Nationalismus, die | |
ideologische Selbstüberhöhung der Nationen, der nationale Eigensinn, der in | |
steten Konflikt mit den Interessen anderer Nationen geraten muss. | |
Frieden in Europa zu schaffen war ein Anspruch, dem alle zustimmen konnten, | |
aber es war klar, dass moralische Appelle so wenig nachhaltige Sicherheit | |
bieten würden wie neue Friedensverträge zwischen den Nationen. | |
Die Idee war daher, die Nationen schrittweise zur Abgabe nationaler | |
Souveränitätsrechte zu bewegen, bis sie, gleichsam entkernt, absterben, | |
wodurch dem Nationalismus die Grundlage genommen wäre. Dazu braucht es | |
supranationale Institutionen, die nach und nach Aufgaben der nationalen | |
Institutionen übernehmen. | |
Es begann mit der Schaffung einer Hohen Behörde, die im Bereich der Kohle- | |
und Stahlproduktion gemeinsame Regelungen für alle Mitgliedstaaten treffen | |
konnte. Die Dynamik des damals angestoßenen Prozesses hat in vielen kleinen | |
Schritten zu immer größerem Fortschritt geführt, wenn wir an den Wegfall | |
der nationalen Grenzen im Schengen-Raum, die Einführung der ersten | |
transnationalen Währung in der Eurozone und an den gemeinsamen Markt | |
denken. Tatsächlich steht in der Bilanz des europäischen | |
Vergemeinschaftungsprozesses die längste Friedensperiode der Länder, die | |
an diesem Projekt teilnehmen. | |
Zugleich ist etwas Eigentümliches passiert: Der historische Vernunftgrund | |
und das perspektivische Ziel des Projekts sind von den heute | |
verantwortlichen politischen Repräsentanten und von weiten Teilen der | |
Öffentlichkeit vergessen worden. Zwar kann jeder auf die Frage „Was ist die | |
EU?“ im Schlaf mit „Friedensprojekt!“ antworten, aber das ist nur die hal… | |
Wahrheit. Die ganze Wahrheit war, ist und bleibt: Friedenssicherung durch | |
die Schaffung eines nachnationalen Europa. | |
## Die Nation ist eine Fiktion | |
Der Friede wird als Gewohnheit vorausgesetzt, verteidigt aber wird dennoch | |
die Gewohnheit, sich als Teil einer Nation wahrzunehmen. Die Menschen, die | |
den Sinn des Projekts nie gehört haben, halten dessen Konsequenzen für | |
verrückt und bedrohlich. Und die politischen Repräsentanten in | |
europapolitischer Verantwortung wissen, dass sie, die nur in nationalen | |
Wahlen gewählt werden, die Fiktion, „nationale Interessen“ seien ein | |
Synonym für die Interessen ihrer Wähler, aufrechterhalten müssen. | |
So schaukelt sich auf, was wir „Renationalisierungstendenzen“ in Europa | |
nennen, und diese gehen nicht vom rechten Rand aus, sondern von der | |
politischen Mitte und sind systembedingt. | |
Wenn man also die Gründungsidee des europäischen Einigungswerks | |
rekonstruiert, dann ist klar: Ein Europa ohne Nationalstaaten ist für die | |
Mehrheit der Menschen heute völlig unvorstellbar. | |
Mit dem Unvorstellbaren ist es aber so eine Sache. Niemand hat sich | |
vorstellen können, dass die Berliner Mauer fallen oder dass die Sowjetunion | |
implodieren würde. Und doch ist es geschehen. Und wenn es auch nur die | |
Folge einer gewissen Eigendynamik war, es war Folge einer Bewegung, die | |
einmal politisch in Gang gesetzt und dann immer wieder beschworen wurde. | |
Eine Politikergeneration, die diese Lehre nicht annimmt, ist eine verlorene | |
Generation. | |
Alle Argumente, die noch für die Unverzichtbarkeit nationaler | |
(Selbst-)Organisation vorgebracht werden, sind längst widerlegt: Die | |
Nation, so wird immer wieder angeführt, stiftet Identität und vermittelt | |
auf der Basis gemeinsamer Kultur, Geschichte, Mentalität und Sprache die | |
Zugehörigkeit des Einzelnen zu einem gesellschaftlichen Ganzen. Diese | |
Behauptung ist Fiktion. | |
Wäre die gemeinsame Sprache konstitutiv für gemeinsame nationale Identität, | |
dann müsste Österreich Teil der deutschen Nation sein. Wäre es die | |
historisch gewachsene Kultur, dann wären Oberösterreich und Süddeutschland | |
eine Nation, aber schon Norddeutschland und Westösterreich wären kein Teil | |
davon. Die gemeinsame Geschichte? Verbindet Österreich und Ungarn mehr als | |
Österreich und Deutschland. Die Mentalität von Großstadtbewohnern | |
unterscheidet sich radikal von der Mentalität der Menschen in Alpendörfern | |
oder auf dem Land, unabhängig von nationalen Grenzen und Sprachen. | |
## Die deutsche Nation als Vorstufe zur EU | |
Es waren die Nationalstaaten, die Demokratie und Rechtszustand | |
hervorgebracht haben, und nur sie können diese Errungenschaften der | |
Aufklärung gewährleisten? Diese Behauptung ist historisches Delirium. War | |
1871 ein Fest freier Menschen, die sich glücklich zur deutschen Nation | |
zusammenfassten? Nein, es war ein Blutbad. In Wahrheit haben die meisten | |
europäischen Nationen bis zur Gründung der Gemeinschaft mehr Jahre unter | |
den Bedingungen von politischer Willkür und Krieg verbracht als in freier | |
demokratischer Souveränität. | |
Letztlich wird man nur auf einen einzigen Vernunftgrund der | |
Nationenbildungen stoßen: Sie waren ein Zwischenschritt auf dem Weg, der | |
durch das europäische Einigungsprojekt friedlich weitergegangen wird. Die | |
deutsche Nation etwa hat aus vierzig Kleinstaaten einen gemeinsamen Markt | |
mit gemeinsamer Währung und gemeinsamen Rechtszustand gebildet. | |
Aber das kann doch nicht das Ende der Geschichte sein. So utopisch die Idee | |
eines nachnationalen Europa heute für viele klingt: Man kann nicht mehr | |
Utopie nennen, was sich seit sechzig Jahren konkret auf unserem Kontinent | |
verwirklicht. Den Glauben aber, dass die Nationen zu retten wären, muss man | |
als negative Utopie bezeichnen. Deren morbide Macht, ihre | |
Auseinandersetzung mit ihrem diagnostizierten Sterben ist es, was zur | |
gegenwärtigen Krise der europäischen Union geführt hat. | |
## Die Entmachtung der Nationalstaaten | |
Die Nationen funktionieren nicht mehr, ein entfaltetes nachnationales | |
Europa haben wir noch nicht. Wir fürchten uns sogar, es uns auszumalen. | |
Dabei ist eindeutig, dass alle Rahmenbedingungen unseres Lebens längst | |
transnational sind: die Wertschöpfungskette, die ökologischen und | |
sicherheitspolitischen Probleme, die Kommunikation – all das macht weder an | |
nationalen Grenzen halt, noch kann es national gemanagt werden. | |
Der unproduktive Widerspruch von nachnationaler Entwicklung und | |
Renationalisierung ist, was wir heute Krise nennen. Und worüber mit | |
zunehmender Erregung diskutiert wird, ist nur ein Reigen von Symptomen. | |
Oder, wie Hegel schrieb: „Das so auf der Schwelle Stehende ist oft gerade | |
das Ungenügendste.“ | |
Und doch ist es das Vernünftige. | |
Was wir Globalisierung nennen, ist nichts anderes als die schrittweise | |
Entmachtung der Nationalstaaten. Doch Europa ist der einzige Kontinent, auf | |
dem sie nicht nur passiert, sondern als bewusste politische Entscheidung in | |
Gang gesetzt und entwickelt wurde. Europa hätte in Hinblick auf die | |
Globalisierung die größte Expertise, steckte es nicht fest in der Blockade, | |
paralysiert zwischen der Feigheit, den eingeschlagenen Weg konsequent | |
weiterzugehen, und der Angst vor der Gegenbewegung. | |
## Nationensterben – oder Schutt, Asche und Mord | |
Diese Blockade kann nur aufgebrochen, die Krise kann nur bewältigt werden, | |
wenn die Idee des europäischen Projekts rekonstruiert wird. Man muss die | |
Geschichte erzählen, sie wäre das heute so verzweifelt gesuchte „Narrativ�… | |
das Europa angeblich fehlt, aber in Wahrheit nur verdrängt wurde. | |
Ich kann nicht verstehen, was an einer transnationalen Solidargemeinschaft | |
in Zeiten der Globalisierung falsch sein soll. Ich kann nicht verstehen, | |
was an der Idee der Überwindung des Nationalismus, nach all unseren | |
Erfahrungen, falsch sein soll. Ich kann nicht verstehen, dass die heutigen | |
Staats- und Regierungschefs die Ideen ihrer Vorgänger so konsequent | |
verschweigen? vergessen? verleugnen?, wo sie ihnen doch Auswege aus der | |
Krise zeigen könnten. | |
Ach – sie wollen wiedergewählt werden? National? Dabei ist klar: Die | |
Nationalstaaten werden untergehen. Je früher wir uns mit damit vertraut | |
machen, desto besser für unsere demokratische und selbstbestimmte Zukunft. | |
Oder es wird wieder Schutt und Asche und Mord geben. Und wir werden | |
betroffen vor den Trümmern stehen und murmeln: „Das soll nie wieder | |
geschehen dürfen!“ | |
Der Hegel’sche Tod aus Gewohnheit. | |
Der Text basiert auf Robert Menasses Rede beim Willy-Brandt-Gespräch 2018 | |
25 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Robert Menasse | |
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