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# taz.de -- Neuer Roman von Jonathan Lethem: Aussteigen in die Wirklichkeit
> Jonathan Lethem, Autor großer New-York-Romane, erzählt diesmal eine
> Fluchtgeschichte. Präsident Trump ist der Literatur nicht förderlich.
Bild: „Hier draußen war der Einfluss der Polizei genauso theoretisch wie der…
Abmelden, aussteigen, abhauen – wer denkt da nicht grade dran. Pokémon Go,
Patriarchat, Facebook, Rechtsruck, Klimawandel, Krieg, Mietwucher, Burnout,
Beziehungsunfähigkeit – es gibt viele Gründe, den Eskapismus ernsthaft in
Erwägung zu ziehen und Exit-Strategien zu konkretisieren.
Das Fliehen vor der Wirklichkeit gehörte schon immer zu den großen
Selbstverwirklichungsideen, Überlebensstrategien und Alternativen zur
herkömmlichen Lebensführung. Aber in Zeiten, in denen Regierungen und ihre
Wähler wie in den USA und Großbritannien den Ausstieg erklären, ist die
Frage Abhauen oder Bleiben zu einer Frage ums Ganze geworden.
Für viele Menschen außerhalb Europas ist sie eine Frage des Überlebens, für
andere die Frage danach, ob es überhaupt einen Weg gibt, sich herrschenden
Regeln und herrschendem Irrsinn zu entziehen. Jonathan Lethems neuer Roman
„Der wilde Detektiv“ handelt von dieser Frage.
Die Ich-Erzählin Phoebe Siegler arbeitet als Redakteurin für die New York
Times und hat ihren Job so satt, wie sie der neuen und der alten Männer,
neuer und alter TV-Serien, Facebooks, durchgestylter Maisonette-Wohnungen
und des „autoreferenziellen Systems“ ihres Milieus in New York überdrüssig
ist: „Harvard, Hillary, Trump, The New York Times. Namen, die ich nicht
mehr in den Mund nehmen wollte, weil sie mich auf ein Leben festnagelten,
das mit ihren Annahmen geronnen war. Dazu gehörte das Überlegenheitsgefühl
gegenüber denen, die ich hasste – die reaktionären, weißen Wähler oder die
Männer, die mir die Chance nahmen, ihren Heiratsantrag abzulehnen, indem
sie mir gar nicht erst einen machten.“
Als Donald Trump einige Tage nach seiner Wahl zum US-Präsidenten von den
leitenden Redakteuren der New York Times in der Redaktion empfangen wird,
kündigt Phoebe ihren Job: „Ich glaube, an dem Tag hab ich bei Facebook
gewonnen, ob das nun was bringt oder nicht.“
Zufällig erfährt sie, dass Arabella, die 18-jährige Tochter einer Kollegin,
verschwunden ist. Phoebe nimmt den nächsten Flieger nach Kalifornien, wo
sie die Studentin vermutet. In Los Angeles gerät Phoebe an Charles Heist,
einen Privatdektiv, der auf besonders schwierige Fälle von Verschwundenen
spezialisiert ist, sich ein kränkelndes Opossum in seiner
Schreibtischschublade hält, ein geflohenes Mädchen in seinem Büroschrank
versteckt, wenig spricht und eine abgewetzte rote Lederjacke in
Cowboyhemdoptik trägt.
## Strenge Winde in der Wüste
Heist bringt Phoebe an einen Ort mitten in der Mojave-Wüste. Es ist eine
verwahrloste Bergregion, in der strenge Winde wehen und die von ehemaligen
Hippies bewohnt wird, die dort in den 60er Jahren der amerikanischen
Zivilisation entkommen wollten. „Hier draußen war der Einfluss der Polizei
genauso theoretisch wie der von Kondensstreifen“, beschreibt Phoebe einmal
diese Kommune. Das Aussteigerprojekt ist auf halbem Wege gescheitert, an
den Männern.
Ein Teil von ihnen verweigerte die Verantwortung für die gezeugten Kinder
und zog sich auf einen Berg zurück, von wo aus sie Krieg gegen die anderen
Aussteiger führen und untereinander gewalttätig wie Tiere um die Rolle als
Anführer kämpfen – die „krachlederne Vorwegnahme von Donald Trump, Anthony
Weiner und Bill Cosby“. Also genau jener „beschissenen Wirklichkeit“, vor
der Phoebe geflohen war. Und der Detektiv Charles Heist bleibt bis zum
Schluss der verschwiegene, kauzige, einsame Cowboy.
Alle Figuren, denen man im Laufe dieses rasanten Romans begegnet, sind so
kaputt, schrill und unsympathisch wie das politische Personal in der Ära
Trump. Auch die dauerplappernde Ich-Erzählerin Phoebe. Sie schafft es
nicht, von ihrem großen Traum wegzukommen, der in einer „triumphalen
Rückkehr nach New York mit todsicherem viralen Content im Gepäck“ besteht:
den großen Enthüllungsessay über die Republikaner. Endlich würde sie dann
den Status „Kantinenliebchen“ und „dekorative Redaktionslakaiin“
überwinden.
## Kein neues, erfüllendes Leben
Und dennoch ist sie die lustigste und sympathischste Figur in der
Erzählung, weil sie – ganz Manhattaner Schule – alles, vor allem ihr
eigenes Verhalten, sarkastisch und ironisch kommentiert. Lachen muss man
über ihre schonungslose Offenheit sich selbst gegenüber, wenn sie von ihren
„versauten Fantasien“, ihrem „Deppencharme“, ihrer „präventiven Albe…
spricht oder sich darüber beschwert, dass sie sich mit den alten, weißen
Männern in der Präriekneipe „nicht mal ordentlich über den Weltuntergang
unterhalten“ kann.
Jonathan Lethem, Autor der legendären New-York-Romane „Motherless
Brooklyn“, „Festung der Einsamkeit“ [1][oder „Chronic City“] zeichnet…
Bild einer weißen Mittelschichtsfrau aus dem Medienmilieu, über deren
Selbstmitleid und Sexfantasien man anfangs noch lacht, bis sie irgendwann
so schal und langweilig werden, wie es die Protagonistin selbst empfindet.
Phoebe findet in dieser Wüste kein neues, erfüllendes Leben, weil hier
Flucht und Eskapismus zurück zu atavistischen Mustern von Macht und
Männlichkeit geführt haben. Und natürlich hat ihre Geschichte auch sonst
kein richtiges Ende, weil der Untergang der bestehenden Welt- und
Geschlechterordnung ja noch nicht vollständig ist und das, was danach
kommt, völlig ungewiss.
Jonathan Lethem hat seinen Roman nach eigener Aussage in nur wenigen
Monaten geschrieben. Als er damit anfing, war er davon ausgegangen, dass
Hillary Clinton Präsidentin werden würde und sein Roman von dem Leben einer
weißen Mittelschichtsfrau unter der ersten weiblichen US-Präsidentin
handeln würde. Bekanntlich wurde dann ein Mann Präsident.
## Saturiertheit der Ostküste
Es mag dem Umstand geschuldet sein, dass Trump der Literatur nicht
förderlich ist – aber „Der wilde Detektiv“ hat keinen richtigem Pepp. Tr…
wunderbarer Slapsticks wie dem Showdown auf einem verrostenden Riesenrad in
der Wüste, fehlt es für ein Roadmovie an schillernden Figuren. Viele
bleiben blass und allzu metaphorisch. Die Saturiertheit des bürgerlichen
Milieus der Ostküste wird in der Figur von Phoebe nur allzu oberflächlich
erzählt, und allzu schnell wird beim Milieu mutmaßlicher Trump- oder
Nichtwähler vorbeigeschaut. Für eine fesselnde Dystopie fehlt die
Leidenschaft derer, die noch für irgendwas kämpfen. [2][Für den typischen
Wörterzauber von Lethem] fehlt es der Sprache des Romans an Luft. Sie
erstickt fast an den von ihr produzierten Bildern.
Das alles ist sicher genau so von Lethem gewollt. Ganz so, als würden
Protagonisten und Sprache in der Schockstarre verharren, in der die Hälfte
der USA sich zu Beginn der Ära Trump befand.
Angesichts eines Präsidenten, der Realität und Fiktion so verwischt, als
wäre er ein Science-Fiction-Autor, hätte man sich von einem Lethem, der
nicht nur Detektivromane, sondern auch Science-Fiction-Romane geschrieben
hat, aber wesentlich mehr erhofft: eine literarische Verarbeitung der
Schockstarre, die irrlichternder ist als der irrlichternde Präsident.
2 Feb 2019
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## AUTOREN
Doris Akrap
## TAGS
Jonathan Lethem
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