# taz.de -- Harufs Romane über die Mitte der USA: Der mit Mütze über den Aug… | |
> Der Holt-Kosmos: Der Diogenes Verlag bringt das Werk des US-Erzählers | |
> Kent Haruf auf Deutsch heraus – eine herausragende Neuentdeckung. | |
Bild: Im Leben der Figuren des Schriftstellers Kent Haruf ziehen häufig schwer… | |
Eine Zeitlang hat Kent Haruf beim Schreiben eine Wollmütze aufgesetzt und | |
ihren Rand über seine Augen gezogen. Dazu muss man natürlich blind tippen | |
können. Nach Aussage seiner Frau Cathy unterlief es ihm selten, dass er | |
dabei auf seiner mechanischen Schreibmaschine die Orientierung verlor und | |
Buchstabensalat produzierte. Der US-Autor vermied auf diese Weise, das | |
Geschriebene immer sofort zu überarbeiten und am Ende gedrechselte Sätze zu | |
haben. | |
Haruf stellte das Storytelling ins Zentrum seiner Arbeit. „Gorgeous | |
writing“, sagte er einmal, sei ihm ein Graus. Noch die ersten Skizzen | |
seines letzten Buchs, „Unsere Seelen bei Nacht“, das posthum erschien und | |
vor zwei Jahren mit Jane Fonda und Robert Redford in den Hauptrollen | |
verfilmt wurde, tippte er bei heruntergezogener Strickmütze. Sechs Romane | |
verfasste der Autor bis zu seinem Tod im Jahr 2014, er wurde 71 Jahre alt. | |
Die Geschichten sind alle im US-Bundesstaat Colorado angesiedelt, und zwar | |
in der fiktiven Kleinstadt Holt, mitten in den Great Plains, den weiten | |
Ebenen östlich der Rocky Mountains. Den Schauplatz hat Haruf, Sohn eines | |
Methodistenpfarrers mit deutschen Vorfahren namens Hörauf, aus den Orten | |
seiner Kindheit zusammengesetzt. | |
Er selbst kam viel herum. Als der 41-Jährige mit „The Tie that Binds“ 1984 | |
seinen ersten Roman veröffentlichen konnte, hatte er bereits auf einer | |
Hühnerfarm gearbeitet, auf einer Baustelle in Wyoming, in einem Krankenhaus | |
in Denver, vorübergehend in Wisconsin oder Illinois gelebt und war sogar | |
mit einem Friedenskorps in der Türkei gewesen. Doch seine Romane spielen | |
dort, wo es außer Weizen- und Maisfeldern, Viehweiden und Getreidesilos | |
wenig zu sehen gibt. Wo man sich daher umso besser auf die Figuren und ihre | |
Charaktere konzentrieren kann. | |
## Umwerfende Liebesgeschichte | |
Diese Typen sind immer schon vor uns da. Wir bekommen schlaglichtartig | |
Ausschnitte ihres Lebens präsentiert, in die wir allerdings unvermittelt | |
und kraftvoll hineingesaugt werden: „Und dann kam der Tag, an dem Addie | |
Moore bei Louis Walters klingelte“, lautet der erste Satz der umwerfend | |
erzählten Liebesgeschichte „Unsere Seelen bei Nacht“. Oder der Auftakt zu | |
„Plainsong“, deutsch „Lied der Weite“: „Da stand er, dieser Tom Guthr… | |
hinteren Küchenfenster seines Hauses in Holt, rauchte Zigaretten und | |
schaute über die Koppel, wo gerade die Sonne aufging.“ | |
Zum Sog, den Harufs Geschichten haben, gehört auch diese mit magersten | |
Worten erzeugte Atmosphäre. In „Lied der Weite“ finden sich unzählige Sä… | |
über die Art, wie der Wind weht. Anfangs versucht man darin einen Ausdruck | |
oder eine Verstärkung der inneren Konflikte der Protagonisten zu sehen. | |
Doch Haruf ging es offenbar nur um einen Realitätseffekt. Man soll das | |
Gefühl haben, dort zu sein, Punktum. Auch Harufs detaillierteste | |
Schilderungen, seien es die der Verrichtungen, die bei der Viehzucht | |
anfallen, oder der Besuch der beiden Rancher auf einer Viehauktion, | |
erzeugen eine unglaubliche Nähe. Wie man mit Harufs Figuren fühlt, riecht, | |
schmeckt, wie man mit ihren Augen in die Welt blickt, gehört zum Besten, | |
was die Literatur der letzten Zeit hervorgebracht hat. | |
Dass man einen großen Erzähler wie Haruf im deutschsprachigen Raum bisher | |
so wenig kennt, ist unverzeihlich. Im Schweizer Diogenes Verlag macht man | |
sich dankenswerterweise gerade die Mühe, das zu ändern. Nach „Unsere Seelen | |
bei Nacht“ und „Lied der Weite“ ist dort gerade der Roman „Abendrot“ … | |
Erstübersetzung erschienen. Weitere sollen folgen. | |
## Das Flanellhemd ist obligatorisch | |
Das Personal, das man bei Haruf begleitet: die McPherons, zwei alternde | |
Viehzüchter in obligatorischen Flanellhemden, eine schwangere Teenagerin, | |
die zehn und elf Jahre alten Söhne des Lehrers Tom Guthrie, viel sich | |
selbst überlassen, seit ihre Mutter zuerst in einer Depression versank und | |
dann nach Denver zog, außerdem ein Kinder misshandelnder Säufer (im | |
obligatorischen Flanellhemd), seine verwahrloste Schwester und ihre | |
vierköpfige Familie, die im Wohnwagen leben. | |
Und es gibt die erwähnten Addie Moore und Louis Walters aus der besseren | |
Gegend des Ortes, über 70, beide verwitwet, die sich zusammentun, sich über | |
Klatsch und Tratsch hinwegsetzen und die Nächte gemeinsam verbringen, | |
miteinander redend. Alle sind auf der Suche nach ein bisschen mehr Glück, | |
als das Schicksal ihnen zugedacht hat. | |
Nicht richtig ist hier, wer nach Erklärungen für das Phänomen Trump sucht. | |
Milieu- oder Mentalitätsschilderungen aus der Mitte Amerikas, die die | |
Denkart einer ganzen Wählerschaft zu entschlüsseln versprechen, bekommt man | |
nicht. Nicht nur, weil Haruf Donald Trump nicht erlebt hat. Nicht nur, weil | |
Colorado einer von den klassischen Swing States ist, deren Bewohner, fast | |
ausschließlich Weiße, ihr Kreuz mehrheitlich mal bei den Demokraten, mal | |
bei den Republikanern gemacht haben. | |
Harufs Bücher lassen keine Aussagen über Menschen aus den Heartlands der | |
USA zu, weil der Autor keine Regionalliteratur schrieb. Seine Geschichten | |
könnten auch in einer Großstadt spielen, sagte er mal, nur lenke dort immer | |
irgend etwas von den Charakteren ab, die Architektur etwa oder der Verkehr. | |
Außerdem kenne er Orte wie Holt nun mal genau. Das sei praktisch, er habe | |
sich die Schauplätze nicht eigens ausdenken müssen. | |
## Haruf bewertet nichts | |
So ganz muss man das nicht glauben. Schriftsteller stricken in Interviews | |
gern am eigenen Mythos. Bei allem universellen Anspruch verrät ein in einer | |
bestimmten Gegend angesiedeltes Personal immer auch etwas über die | |
Menschen, die tatsächlich dort leben. Nur sind das eben keine Trump-Wähler. | |
Und Haruf bewertet nichts. Er verzichtet beinahe vollständig darauf, | |
Einblicke in das Seelenleben seiner Protagonisten zu geben. Nur durch die | |
Schilderung dessen, was sie tun und was sie miteinander reden, fächert er | |
seinen Holt-Kosmos auf. Stärker noch als sein großes Vorbild Tschechow | |
bleibt Haruf neutraler Erzähler. Dieser Erzähler zeigt nur auf, zum | |
Beispiel den Widerspruch zwischen dem „pursuit of happiness“, dem Streben | |
nach Glück, das in den USA in den Augen vieler quasi Rechtsstatus hat, | |
einerseits und den idiotischen Reglementierungen durch überlieferte | |
Moralvorstellungen andererseits. | |
Es geht bei Haruf um enge Freundschaftsbande und Wahlfamilien, die sich | |
bilden, wo die herkömmlichen Familien nicht funktionieren. Manchmal ist das | |
zu schön, um wahr zu sein. Aber ohne dauernd irgendwelche Abgründe | |
herausstreichen zu müssen, liefert Haruf einem auch die Niedertracht, die | |
einem solchen Mikrokosmos innewohnen kann. | |
## Zwei alternde Rancher | |
In „Abendrot“, einem Sequel zu „Lied der Weite“, das das Figurenensemble | |
aus dem Vorgänger aufgreift, erweitert und mit verschobener | |
Schwerpunktsetzung weitererzählt, sieht sich Raymond, einer der beiden | |
alternden Rancher, nach einem Unglück zu einer radikalen Verhaltensänderung | |
gezwungen. Die Beharrungskräfte seiner Gewohnheiten kollidieren plötzlich | |
mit dem menschlichen Bedürfnis nach Nähe: | |
„Ach, Unsinn. Ich wüsste nicht, was ich in der Stadt mit mir anfangen soll. | |
Du würdest dich wundern, sagte Guthrie. Vielleicht gerätst du in | |
irgendwelche aufregenden Abenteuer. Könnten aber auch Abenteuer sein, aus | |
denen ich dann nicht mehr rauskomme, sagte Raymond. Und was mach ich dann?“ | |
Wenig später besucht er eine Kneipe und unterhält sich bis zum Kehraus mit | |
einer Frau: „So etwas hatte er noch nie im Leben gemacht.“ | |
Manche wollen in Haruf den Autor des konservativen Amerika sehen, doch eine | |
Feier des geschilderten Konservatismus liest sich sicher anders. | |
## Durchbruch mit 56 Jahren | |
Nicht selten sind es die Kinder und Jugendlichen, an denen Haruf das Glück | |
der vertrauensvollen Beziehung, aber auch die gegenseitigen Gemeinheiten | |
und Brutalitäten aufzeigt. Und wenn Kinder unter Erwachsenen leiden, meint | |
man eine noch größere Empathie und Verzweiflung aus den Zeilen zu lesen, | |
als wenn sich Erwachsene gegenseitig das Leben zur Hölle machen. | |
Das hat vielleicht mit Harufs Beruf zu tun. Bis ihm mit „Lied der Weite“, | |
er war bereits 56 Jahre alt, der Durchbruch gelang, hat er als | |
Highschool-Lehrer gearbeitet. Zuletzt in Salida, wo er sich mit seiner Frau | |
niederließ. Das liegt zwar in Colorado, aber anders als Holt in der Nähe | |
der Berge. Die Landschaft ist dort erheblich abwechslungsreicher. Das kann | |
man sehen, falls man keine Mütze über den Augen hat. | |
3 Feb 2019 | |
## AUTOREN | |
Christiane Müller-Lobeck | |
## TAGS | |
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Donald Trump | |
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Jonathan Lethem | |
Biografie | |
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