| # taz.de -- Neuer Roman von Jonathan Lethem: Brutal lebendig | |
| > Ein Höllentrip durch die eigene Familiengeschichte und die der | |
| > amerikanischen Linken: Ein Gespräch mit Jonathan Lethem über „Der Garten | |
| > der Dissidenten“. | |
| Bild: In „Time Pilot“ aus dem Jahre 1982 gibts Punkte fürs Abschießen: Le… | |
| Sergius weicht mit seinem Flugzeug allen Doppeldeckern im Ersten Weltkrieg | |
| aus, taucht unter allen Kampfflugzeugen im Zweiten Weltkrieg durch und | |
| entkommt auch auf den anderen Levels allen Kampfjets und feindlichen | |
| Flugobjekten, ohne den roten Knopf seines Joysticks zu drücken. | |
| Beim Videospiel „Time Pilot“ ist aber für das bloße Überleben keine | |
| Belohnung vorgesehen. Punkte gibt es nur für das Abschießen, das Morden. | |
| Mit einem Punktestand von Null ist Sergius ein Verlierer. Aber er ist in | |
| dem neuen Roman des Schriftstellers Jonathan Lethem auch ein Sieger: Er hat | |
| aus einem Spiel, das als Massaker entworfen wurde, eine pazifistische | |
| Demonstration gemacht. | |
| „Der Garten der Dissidenten“ heißt dieser jetzt auf Deutsch erscheinende | |
| Roman. Sergius spielt darin nicht nur in dem Videospiel die Rolle des | |
| Zeitpiloten. Er ist der Zeitpilot, mit dem wir durch den Roman reisen. Ein | |
| Roman, der nichts Geringeres als ein Trip durch das | |
| europäisch-amerikanische 20. Jahrhundert ist. | |
| Ein Höllentrip auf der Suche nach der Wahrheit hinter der Härte der | |
| jüdischen Großmutter, die mit ihrer Familie aus Polen vor den Nazis nach | |
| New York fliehen musste, und der Härte der jüdischen Mutter aus New York, | |
| deren Vater mit seiner Familie aus Lübeck vor den Nazis nach York geflohen | |
| war. Beide, Großmutter und Mutter, setzten ihr ganzes Leben für ihre | |
| revolutionären politischen Ideale ein – und lassen dafür ihren Enkel und | |
| Sohn im Stich. | |
| ## Die Genealogie New Yorks | |
| Auch Jonathan Lethem kennt die Wahrheit über seine jüdische Großmutter | |
| nicht. Was er weiß: Sie war eine Opernsängerin aus Lübeck, die mit ihrer | |
| Familie vor den Nazis nach New York floh. Als er Teenager war, starb sie. | |
| Sergius ist also das Alter Ego Lethems. | |
| Seit Januar ist der amerikanische Bestsellerautor Fellow an der American | |
| Academy in Berlin-Wannsee. Auf der Couch im Wohnzimmer des Chauffeurhauses | |
| sitzend, erzählt er trotz früher Stunde enthusiastisch und mit funkelnden | |
| Augen über die persönlichen Hintergründe. | |
| „Ich wollte verstehen, warum meine Großmutter so war, wie sie war, so | |
| eigenwillig und hart, so unbedingt das Leben in der Stadt, die Bücher, die | |
| Freiheit, Amerika verteidigend und so gnadenlos alle Menschen verachtend, | |
| die das Leben auf dem Land besser fanden, und jeden verurteilend, der nicht | |
| so dachte wie sie. Und dazu musste ich in die Geschichte zurück“, sagt der | |
| 1964 in Brooklyn geborene Autor. | |
| Sein neunter Roman ist aber nicht bloß die Aufarbeitung seiner eigenen | |
| Familiengeschichte. Anhand dreier Generationen liefert Lethem die | |
| Genealogie New Yorks, die „DNA“ der Stadt, wie Lethem es nennt, und die ist | |
| eben jüdisch, europäisch und revolutionär. | |
| ## Immer wieder verraten | |
| Mit „Motherless Brooklyn“ (1999) und „Festung der Einsamkeit“ (2003) ha… | |
| seinem Stadtteil die schönsten Liebeserklärungen geschenkt, längst wird er | |
| als Chronist der Gentrifizierung New Yorks gefeiert. Nun tritt Lethem in | |
| die Fußspuren so großer amerikanischer Erzähler wie Saul Bellow oder Philip | |
| Roth, die den Kampf um Selbstbehauptung und Identität säkularer Juden im | |
| New York der Nachkriegszeit zu Weltliteratur gemacht haben. | |
| Aber Lethem macht es geschickt, er tritt leicht neben die Fußspuren. Mit | |
| dem Aufmarsch der Generationen lässt er auch die gescheiterten Formen | |
| revolutionärer Utopien der amerikanischen Linken am Leser vorbeiparadieren: | |
| von der KP, deren Mitglied Großmutter Rose war, über die Hippiebewegung, zu | |
| der Mutter Miriam gehört, bis zur Occupy-Bewegung, der sich Enkelsohn | |
| Sergius anschließt. | |
| Und trotzdem: Warum hat er sich nun ausgerechnet der Geschichte gewidmet, | |
| über die schon so viel erzählt worden ist, der Geschichte jüdischer New | |
| Yorker? „Es ist nun mal eine amerikanische Legende, dass wir die | |
| europäische Geschichte überwunden haben. Aber tatsächlich haben wir sie nur | |
| verdrängt. Sie ist immer noch mitten unter uns, macht etwas mit uns, ob wir | |
| das wollen oder nicht. Noch 1974 erschien mir der Holocaust wie ein antiker | |
| Mythos. 2014 scheint er mir näher zu sein als vieles andere“, sagt er. | |
| Lethem gehört zu den derzeit wichtigsten amerikanischen Autoren. Als | |
| Nachfolger von David Foster Wallace unterrichtet er Kreatives Schreiben am | |
| kalifornischen Pomona College. Dass er ausgerechnet jetzt für ein paar | |
| Monate in Berlin lebt, ist Zufall. Zu Fuß könnte er zum Haus der | |
| Wannseekonferenz laufen, dorthin wo die Vernichtung der europäischen Juden | |
| geplant wurde. | |
| ## Unerbittlich kämpfend | |
| Zögerlich nur antwortet er auf die Frage, wie er Berlin finde. Er möchte | |
| nicht beleidigend klingen und entschuldigt sich mehrfach, bevor er sagt: | |
| „Berlin ist unvollendet. Die Gegenwart der Vergangenheit ist hier ist so | |
| lebendig. Brutal lebendig. Unter der Haut des Alltags spüre ich sie | |
| ständig.“ | |
| Brutal lebendig. Besser könnte man Rose Zimmer, die Großmutter und | |
| Hauptfigur in „Der Garten der Dissidenten“, nicht beschreiben. Von der | |
| Geschichte immer wieder enttäuscht und verraten – wegen einer Affäre mit | |
| einem schwarzen Polizisten wird sie aus der Kommunistischen Partei | |
| ausgeschlossenen, ihren deutschen Ehemann verliert sie an die DDR, ihre | |
| Tochter an die nicaraguanische Revolution –, ersetzt sie Jahwe erst durch | |
| Stalin und dann durch Lincoln und endet schließlich als gefürchtete | |
| Blockwärtin ihrer jüdischen Wohnsiedlung. | |
| Unerbittlich gegen Autoritäten und Hierarchien kämpfend, ist sie selber | |
| autoritär bis auf die Knochen. Vom historischen Wind durchs Leben | |
| gewirbelt, hält sie mit ihren Waffen dagegen, ihrer scharfen Intelligenz | |
| und ihrem Feuereifer für die Gerechtigkeit. | |
| Aber damit zerfetzt sie nicht nur propagandistische Zeitungsartikel in der | |
| Luft, sie zerstört dadurch auch alle ihre Liebesbeziehungen und die | |
| familiären und nachbarschaftlichen Beziehungen gleich mit. „Okay, du bist | |
| von Feinden umgeben, aber du hast Hausschuhe“, versucht Cicero, ihr | |
| einziger dankbare Schüler, sie am Ende ihres Lebens zu besänftigen. | |
| Eingestehen kann sie freilich nicht, dass es ihrem Leben ganz gut getan | |
| hätte, sich gelegentlich an ihren Hausschuhen statt immer nur an ihren | |
| Feinden zu erfreuen. | |
| ## Verliebt in diese Figuren | |
| Rose ist eine Mutter, die man nur verlassen kann, eine Nachbarin, der man | |
| auf keinen Fall begegnen will, eine Freundin, vor der man Angst hat, und | |
| trotzdem: Man möchte sie beim Lesen dieses Romans schütteln und dann ganz | |
| fest umarmen, auf dass sie die Milde und Liebe, die sie tief in sich | |
| begraben hat, freigibt. Man wird diese Rose nämlich nicht mehr so schnell | |
| los. Denn es ist nicht der Plot, der den Rausch beim Lethem-Lesen erzeugt. | |
| Es sind seine fantastisch erfindungsreichen Sprachbilder und seine | |
| verwinkelte Choreografie, mit der jeder Winkel seines Personals so begierig | |
| ausgeleuchtet wird, dass man sich in diese Personen verliebt, obwohl die es | |
| eigentlich gar nicht zulassen, dass man sie überhaupt nur sympathisch | |
| findet. | |
| Sergius wird die Wahrheit über Rose und seine Mutter nicht erfahren. Denn | |
| immer ist es eine Verkettung von Zufällen, impulsiven Handlungen und | |
| emotional verschachtelten Entscheidungen, die dazu führen, dass letztlich | |
| alle Figuren in diesem Roman allein bleiben, Rose im Altersheim in Queens, | |
| Sergius im Quäkerinternat in der Provinz Pennsylvanias. | |
| „Ich habe schon, als ich zum ersten Mal im Kino war, gelernt, dass man | |
| immer nur Schleier um Schleier lüften kann, um der Wahrheit näher zu | |
| kommen. Es lief ’Yellow Submarine‘. Die wahren Beatles sah ich hier nicht, | |
| nur Zeichentrickfiguren. | |
| ## Jeder revolutionäre Versuch scheitert | |
| Also hörte ich die Platten und entdeckte, dass die wahren Beatles, die aus | |
| den frühen 60er Jahren waren. Meine Mutter aber hielt die Beatles nach | |
| ’Sgt. Pepper‘ für die wahren. Die wahren Beatles haben wir beide natürlich | |
| nie kennengelernt“, erzählt Jonathan Lethem lachend auf dem Sofa in | |
| Wannsee. | |
| Es gibt sie also nicht, die Wahrheit hinter der Geschichte, die Wahrheit | |
| hinter dem Charakter. Wie auch? Dass jeder revolutionäre Versuch scheitert, | |
| so wie jedes Vorhaben, die Vergangenheit loszuwerden und alles ganz anders | |
| als die Eltern zu machen, ist immer einer Verkettung von Ereignissen und | |
| Entscheidungen geschuldet, die man selbst nicht gewählt hat. | |
| Das Einzige, was man selbst entscheiden kann, so könnte die Botschaft des | |
| Romans lauten, ist der Widerwille gegen die Desillusionierung, das | |
| „selbstgewählte Nein!“, wie es im Roman heißt. So wie beim Zeitpiloten | |
| Sergius, der das Videospiel einfach nach seinen Regeln spielt. Auch wenn es | |
| keine Auswirkungen auf die Geschichte hat. | |
| 23 Feb 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Doris Akrap | |
| ## TAGS | |
| USA | |
| Jonathan Lethem | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Neuer Roman von Jonathan Lethem: Aussteigen in die Wirklichkeit | |
| Jonathan Lethem, Autor großer New-York-Romane, erzählt diesmal eine | |
| Fluchtgeschichte. Präsident Trump ist der Literatur nicht förderlich. | |
| Plagiatsdebatte beim Leipziger Buchpreis: Flaschengeist des Eigentums | |
| Die Diskussion um Helene Hegemann verfehlt eine Reflexion über das | |
| Urheberrecht in Zeiten der Digitalisierung - und beschwört stattdessen ein | |
| romantisches Künstlerbild. | |
| Zadie Smith neues Buch: Dir ganz nebenbei ins Ohr erzählt | |
| Zadie Smith "Buch der Anderen" bietet einen guten Überblick der Literatur | |
| aus den USA und England. Es ist der Sprecher, nicht die Sprache! | |
| Verlegerischer Trendsetter: "Wir werden wachsen" | |
| Tropen-Verleger Tom Kraushaar wechselte kürzlich zu Klett-Cotta, und | |
| Wolfgang Farkas holte bei seinem Blumenbar-Verlag einen Investor ins Boot. | |
| Die Zukunft der kleinen Verlage: Mitten im Mahlstrom | |
| Die unabhängigen Kleinverlage haben sich konsolidiert. Doch nur wenn sie | |
| ihr Publikum ständig aufs Neue überraschen, können sie überleben. |