# taz.de -- Neuer Roman von Marlene Streeruwitz: Alles bleibt in Bewegung | |
> Das Private ist politisch: „Flammenwand“ erzählt von einem Paar in der | |
> Krise und verweist immer wieder auf die grundsätzliche Fragen. | |
Bild: Prägungen und Wirkungen struktureller Diskriminierung: Autorin Marlene S… | |
Einerseits überschaubar, die Handlung dieses Romans. Ein paar Stunden im | |
Leben der Adele Süttner, einer Frau von rund fünfzig Jahren. Der Ort: | |
Stockholm. Es ist März, aber noch winterlich kalt. Eisig kalt, aber sonnig. | |
Sie ist hier mit Gustav, dem Mann, um die sechzig, mit dem sie sich in | |
einer Beziehung einzurichten versucht. Adele kommt aus Wien, ist Lehrerin, | |
hat ein Karenzjahr genommen, das will sie mit ihm gemeinsam verbringen. | |
Gustav lebt in Berlin, ist Steuerfahnder und wegen seines Jobs viel | |
unterwegs. So viel kann man sagen. | |
Man sagt es so, aber von außen. Marlene Streeruwitz lässt in ihrem Roman | |
„Flammenwand.“ einen solchen Außenblick freilich nicht zu. Alles ist aus | |
der Sicht von Adele berichtet. Man folgt ihren Blicken, ihren Gedanken, | |
ihren Erinnerungen, ihrem Gehen, ihrem Deuten und Hadern, einmal auch ihrem | |
fantasmagorischen Wegdriften aus der kalten Stockholmrealität. (Sie | |
verwandelt dabei einen fremden Mann in grünen Spargel, wird von einer | |
wuchernden Pflanze fast zärtlich umfasst.) Es ist ein Strom der Gedanken, | |
in dem vieles herangeschwemmt wird, in der Tradition von Woolf oder Joyce | |
oder Faulkner, in Sätzen allerdings, deren an Punkten reiches Stakkato ganz | |
Streeruwitz ist. | |
Gustav im Café, eigentlich will Adele nur zu ihm, er schreibt eine | |
Nachricht ins Handy, sie folgt einem Impuls und geht weiter, wartet auf die | |
Nachricht, die sie aber niemals erreicht. Sie begreift: Es war keine | |
Nachricht an sie. Es öffnet sich ein Spalt, ein Abgrund, mitten in | |
Stockholm, Gustav ist nicht der, der er schien. Auf ihrem Weg durch | |
Stockholm nämlich ein Anruf, von einer Frau namens Solveig, mit der, stellt | |
sich heraus, Gustav sie betrügt. | |
Ohnehin war da ein Problem, mit dem Sex. Er kriegt keinen hoch, nimmt sie | |
dafür jeden Morgen in den Arm, befriedigt sie mit der Hand. Sie kann nicht | |
klagen. Oder sie könnte, aber sie wagt es nicht, sie kommt dieser Schwäche | |
des Mannes entgegen, indem sie nicht daran rührt. Genau dadurch hatte er | |
sie, erkennt sie nun, in der Hand. | |
## Ein gefühlter Mord | |
Adele denkt an ihren Vater, dominanter Patriarch, Schuldirektor, er hat den | |
Bruder geschlagen und ihr noch diese perverse Form der Anerkennung | |
verwehrt. Der Vater war kriegsversehrt, der rechte Arm hat gefehlt. In | |
diese Lücke ist womöglich nun der Arm des Gustav gerutscht, der ihr so | |
regelmäßig die Orgasmen verschafft hat. Und auch bei Gustav sind Dinge im | |
Rutschen. Da ist die Mutter, sie starb am Krebs, als er 13 war, so hat er | |
es jedenfalls Adele erzählt, aber es war in der Erzählung immer eine | |
ödipale Geschichte, er hat sich abgewendet aus Ekel vor ihrem kranken Leib: | |
ein gefühlter Mord, der nicht vergeht. | |
So weit, so Freud. Die Psychoanalyse ist für Streeruwitz und für Adele ein | |
Deutungshintergrund, der manches erklärt. Nein, erklären ist ein zu starker | |
Begriff: Eher geht es darum, dass Motive bereitgestellt werden, die sich zu | |
anderen fügen. Ein für allemal festgestellt wird hier nämlich nichts. Alles | |
ist und bleibt in Bewegung: Adele in Stockholm, das Denken und Deuten, ihre | |
Gedanken, ihr Körper, die Sprache, die vom geraden Weg abweicht, sich | |
denkend ins Wort fällt. Wenngleich Adele am Ende zwangsweise arretiert wird | |
– nämlich als vermeintliche Ladendiebin mit einem Taser zu Boden gestreckt. | |
Sie rappelt sich aber auf, und es folgt der letzte Satz der Erzählung: | |
„‚Ja‘, sagte sie laut. ‚Ich will.‘“ (Nicht verkehrt, hier an den �… | |
und Molly Bloom zu denken und ihre letzten Worte „yes I said yes I will | |
Yes.“) | |
Wobei, der letzte Satz des Buchs ist das nicht. „Flammenwand.“ ist nämlich | |
sehr viel mehr als nur die Beziehungskiste von Adele und Gustav. Zum einen, | |
weil das Private im Gedankenstrom von Adele immer wieder aufs sehr | |
Grundsätzliche verweist, genau das ist der Sinn der Formel, dass alles | |
Private politisch ist: Fragen nach Geschlechterverhältnissen und danach, | |
was in ihnen, und nicht nur in ihnen, an Prägungen durch Vergangenheit und | |
Kultur fortwirkt, sind immer präsent. | |
Die vielfältigen Geschichten struktureller Diskriminierung sind nichts, das | |
zu etwas Privatem dazukommt – Wahrnehmen und Nichtwahrnehmen, Offenheit und | |
Vorurteil, Bedenken und Ignorieren sind das, was jeden Akt des Denkens und | |
Handelns schon immer durchdringt. | |
## Hypergenaue Beschreibungen | |
In der Beschreibung solcher Prägungen und Wirkungen ist Streeruwitz | |
hypergenau, strukturell kapillarisch. Sie beschwört nicht mit | |
Realitätseffekten Individuen herauf, als wären sie echt, sondern sie | |
begreift die Figur als Exempel, das sie mit möglichst dichter Beschreibung | |
von Denken, (Körper-)Gefühlen und sich ständig verschiebenden sozialen | |
Lagen in Narration überführt. Zwar steht in „Flammenwand.“ die | |
Geschlechterfrage im Zentrum, jedoch wird sie durch einen eigentümlichen | |
Akt mit Fragen nach Klasse und Ethnie verknüpft. | |
Aus einer impulsiven Entscheidung heraus kauft Adele einer Romni Kopftuch | |
und Rock ab – und zieht sich beides an. Eine Verwandlung für die Augen der | |
Mitwelt, die die Roma-Adele daraufhin erwartbar verächtlich behandelt. Und | |
doch, auf vertrackte Art, ein Schritt zur Befreiung, eine Distanznahme, in | |
der sie, auf dem Umweg über die angeeignete Fremdheit, sich selbst | |
näherkommt. | |
Der ganze Roman ist auf diese Weise Durcharbeitung von politischer und | |
sozialer Struktur. Was aber nicht heißt, dass diese Struktur der Figur oder | |
auch der Autorin notwendig durchsichtig und das Ganze ein aufs Feld der | |
Fiktion verirrter Aufsatz wäre: Es ist die Eigentümlichkeit von | |
Streeruwitz’ stockender, kreisender, wie ein Mahlwerk arbeitender, oft aus | |
Ein-Wort-Sätzen bestehender, grammatikalisch manchmal leicht verdrehter | |
Sprache, dass sie nie ein Ans-Ende-gelangt-Sein suggeriert, sondern immer | |
neue Anläufe macht; dass Motive durchgearbeitet werden, verschwinden, in | |
etwas anderer Tonart wiederkehren, was auch heißt: Sie waren untergründig | |
ständig aktiv. Darin sind diese Texte so lebendig, organisch. | |
## Fußnoten zu Österreich | |
Es kommt dazu, dass „Flammenwand.“ ein „Roman mit Anmerkungen“ ist. So | |
steht es im Untertitel. Schon die Erzählung selbst ist durchbrochen mit | |
Zeilen, die Ort und Datum des Schreibens verzeichnen, etwa: „Dienstag, 5. | |
Juni 2018. Wien“, oder einmal, fast schon eine Tagebuchnotiz: „Dienstag, | |
12. Juni 2018. Von Wien nach Paris. Nicht nach Berlin geflogen.“ | |
Was da neben der erzählten Zeit ins Spiel kommt, ist die Erzählzeit, eine | |
Forcierung des Gegenwartsbezugs, der dann, separat und doch drängend, | |
weiter ausgefaltet wird: Hinter den Statuszeilen befindet sich jeweils noch | |
ein hochgestelltes Fuß-, genauer Endnotenzeichen. Am Schluss, nach dem Ende | |
der Erzählung, ist dann, von der Erzählung separiert, aber in sich | |
zusammenhängend, das tagespolitische Geschehen im Österreich des Jahres | |
2018 notiert: eine Chronik der laufenden Faschisierung des Landes unter der | |
schwarz-blauen Regierung. | |
Wenn die Verhältnisse so deutlich werden, dann muss auch sie es sein, sagt | |
die Autorin. Sie kommentiert die Anmerkungen weiter nicht, die reaktionären | |
Äußerungen, Regierungsbeschlüsse, das Eindringen der Unfreiheit in die | |
Institutionen: All das spricht für sich, in einem lakonischen | |
Protokollstil, nicht in der Streeruwitzsprache. Dass die Wirklichkeit in | |
Gestalt des Ibiza-Videos den Roman noch vor seiner Veröffentlichung | |
überholt hat und Heinz-Christian Strache vier Tage vor dessen Erscheinen | |
zurücktrat, zeigt, dass die Gegenwart in einem buchstäblichen Sinn immer | |
schneller ist als ein Roman. Andererseits bleibt das Buch davon unberührt. | |
Nicht weil es in einem schlechten Sinn überzeitlich argumentierte, sondern | |
weil die Abgründe nicht nur der österreichischen Realität in Streeruwitz’ | |
Analysen immer schon eingepreist sind. | |
30 Jun 2019 | |
## AUTOREN | |
Ekkehard Knörer | |
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