# taz.de -- Buchpreis-Kandidatin Christine Wunnicke: Der Fiebertraum von einer … | |
> Autorin Christine Wunnicke lässt in ihrem neuen Roman zwei Reisende in | |
> Indien stranden. Damit steht sie auf der Shortlist für den Deutschen | |
> Buchpreis. | |
Bild: Die Winde waren ungünstig: Auf Gharapuri mit seinen Tempeln stranden bei… | |
Carsten Niebuhr war ein erstaunlicher Mann. 1733 in eine Bauernfamilie im | |
Land Hadeln an der niedersächsischen Elbe geboren. In Hamburg dann die | |
Gelehrtenschule besucht, in Göttingen Mathematik studiert, in dänische | |
Dienste gekommen und 1761 als Kartograf in eine Expedition nach Arabien | |
berufen: Los geht es mit dem Schiff von Kopenhagen nach Konstantinopel. | |
Niebuhr wird die Reise als einziger der sechsköpfigen Truppe überleben. Er | |
wird ein Buch über das schreiben, was er sah und erlebte, 1772 wird es | |
unter dem Titel „Beschreibung von Arabien“ erscheinen. Das Buch macht ihn | |
berühmt in Europa, noch Goethe wird Niebuhrs Sohn, einen seinerseits höchst | |
renommierten Althistoriker, um ein Autogramm des Vaters ersuchen. | |
Niebuhr, den Protagonisten, oder einen der Protagonisten von [1][Christine | |
Wunnickes Roman] „Die Dame mit der bemalten Hand“, hat es also gegeben. | |
Auch Gharapuri existiert, der zentrale Schauplatz des Buches, so sehr es | |
mit seinem gewaltigen Höhlentempel, dem [2][Hindu-Gott Shiva] gewidmet, | |
einer Fieberwahnfantasie gleicht: Gharapuri ist eine Insel im Hafen von | |
Mumbai, die Höhlen und ihre Skulpturen kann man bis heute besuchen. | |
Dies also hat es wirklich gegeben, auch den Göttinger Orientalisten Johann | |
David Michaelis und seinen langen Fragenkatalog, der im ersten Kapitel | |
gleich auftritt: Niebuhr soll im Auftrag von Michaelis in Arabien Belege | |
für biblische Wahrheiten finden. | |
Nun aber ist Niebuhr auf Gharapuri gestrandet, auch Elephanta genannt, | |
geplant war das nicht. Die Reisegenossen sind tot, einer nach dem anderen | |
an Typhus gestorben. Und auch Niebuhr fiebert, scheint dem Tode geweiht. Da | |
stößt einer auf ihn, der hat in der Wirklichkeit so nicht existiert. Ihn | |
hat Wunnicke erfunden, sein Name ist Musa. | |
## Ungünstige Winde | |
Eigentlich aus Persien stammend, als Wanderer zwischen den Welten in die | |
indische Stadt Jaipur, Hauptstadt von Rajasthan, geraten. Meister Musa ist | |
Astronom und baut Astrolabien, jene intrikaten Messinstrumente, mit denen | |
man die Positionen der Sterne bestimmt. Eigentlich will er nach Mekka, die | |
Winde waren der Reise nicht günstig. | |
Die Winde jedoch hat Wunnicke in ihrer Fiktion arrangiert. Ihr ist an der | |
Begegnung der beiden Männer gelegen, sie unterhalten sich, Niebuhr ist ein | |
Sprachtalent, ganz gut auf Arabisch, man trifft sich also nicht nur | |
geografisch auf beiden fremdem Terrain. Musa spricht auch Sanskrit, was | |
nicht viel bringt, sich hier aber in ein nicht unkomisch gespreiztes | |
Deutsch überträgt. Dieser Musa, auf Elephanta gestrandet, stößt also auf | |
den gestrandeten, fiebernden Niebuhr. | |
Man kommt, als dieser aus dem Fieber erwacht, ins Gespräch, über mancherlei | |
Dinge, Almanya, über die Höhlen mit den Shiva-Skulpturen, nicht zuletzt: | |
über die Sterne des Himmels. Sie sehen Kassiopeia, das Sternbild, das Musa | |
als Dame-mit-der-bemalten-Hand bezeichnet. | |
## Sehr genau recherchiert | |
Später wird Niebuhr auch wieder fiebern. Engländer werden kommen, der | |
Aufenthalt auf der Insel, die Begegnung mit dem Astrolabienbauer und seinem | |
jungen Begleiter Malik bleibt eine Episode, vielleicht ist alles, was sich | |
auf Gharapuri zuträgt, ohnehin nur ein Fiebertraum Carsten Niebuhrs, wer | |
kann es wissen. | |
Christine Wunnickes Buch ist, wie ihre anderen Bücher, auf den ersten Blick | |
ein Historienroman. Sie hat sehr genau recherchiert, nimmt vom Boden der | |
Tatsachen ihren Ausgang. Es interessiert sie aber, anders als andere | |
Autor*innen von Historienromanen, nicht die Illusion der Wiederherstellung | |
einer vergangenen Welt. | |
Mit ungeheurer Leichtigkeit trägt sie die Last ihrer Recherchen, federnd | |
fast bewegt sie sich mit klaren, nicht zu kurzen und nicht zu langen Sätzen | |
durch eine Welt, in der sich die Erfindung keine falschen Freiheiten nimmt. | |
Realien sind es, so scheint es, die die Fantasie der Autorin anregen, | |
anstoßen und beflügeln. Es sind aber kleine und zarte Flügel. | |
## Gegenteil eines Ausstattungsromans | |
Schmal ist das Buch, das Gegenteil eines Ausstattungsromans. Das | |
Historische stimmt, mit großer Liebe etwa wird das Astrolabium beschrieben | |
als präzises und auch schönes Instrument, das es mit astronomischer | |
Genauigkeit erlaubt, die Sterne mit Händen zu greifen. | |
Ein wenig funktioniert auch Wunnickes Roman wie ein solches | |
Präzisionsinstrument. Die Erfindung, die sich ans Wirkliche anschmiegt, | |
nutzt und schafft Lücken, sie fügt, aber sanft und mit schöner | |
Geschmeidigkeit, den historischen Fakten etwas hinzu: den Traum einer | |
Begegnung, den nachempfundenen doppelten ost-westlichen Blick auf die Welt, | |
denn zwischen der Perspektive Niebuhrs und Musas und auch des Begleiters | |
Malik gleitet das Buch hin und her. | |
Es ist, am Ende, nichts Großes passiert. Der eine gelangt zurück in die | |
Heimat, von seinem Ruhm berichtet Wunnicke nur indirekt. Der andere nämlich | |
wird in Mekka gewesen sein, als Haddschi Musa al-Lahuri tritt er, es ist | |
jetzt das Jahr 1783, in Jaipur noch einmal auf. Hier gerät ihm Niebuhrs | |
Reisebericht in französischer Übersetzung in die Finger. Er und die | |
Elephanta-Episode kommen nicht darin vor. Dieses Versäumnis hat Christine | |
Wunnicke nun mit leichter Hand korrigiert. | |
4 Oct 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Shortlist-zum-Deutschen-Buchpreis/!5709782 | |
[2] /In-Indien-unterwegs/!5374819 | |
## AUTOREN | |
Ekkehard Knörer | |
## TAGS | |
Literatur | |
Geschichte | |
Orient | |
Historischer Roman | |
Gegenwartsliteratur | |
Historie | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Historienroman von Christine Wunnicke: Wächserne Zeichen | |
Christine Wunnicke siedelt in ihrem neuen Roman die Handlung im 18. | |
Jahrhundert an. Zwei Französinnen meistern darin gemeinsam Lieben und | |
Leben. | |
Neuer Roman von Marlene Streeruwitz: Alles bleibt in Bewegung | |
Das Private ist politisch: „Flammenwand“ erzählt von einem Paar in der | |
Krise und verweist immer wieder auf die grundsätzliche Fragen. | |
„Schlafende Sonne“ von Thomas Lehr: Heftig knirschende Sprachplatten | |
Der Roman steht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Darin gibt es | |
weder einen allwissenden Erzähler noch ein klar umrissenes Ich. |