| # taz.de -- Historienroman von Christine Wunnicke: Wächserne Zeichen | |
| > Christine Wunnicke siedelt in ihrem neuen Roman die Handlung im 18. | |
| > Jahrhundert an. Zwei Französinnen meistern darin gemeinsam Lieben und | |
| > Leben. | |
| Bild: Anatomie kam im Frankreich des 18. Jahrhunderts in Mode. Auch diese Zeich… | |
| Es ist dunkel. Es ist Nacht. Und wir befinden uns in einer Kaserne im Paris | |
| des 18. Jahrhunderts. Marie Biheron, 15-jährige Tochter eines Pariser | |
| Apothekers, ist auf der Suche nach einer Leiche. Irgendwer hatte ihr | |
| erzählt, dass das Militär welche zu verkaufen hätte. Sie will sie sezieren | |
| und zeichnen, um damit Geld für die Familie zu verdienen. Aber auch weil | |
| sie ein großes Interesse an Anatomie hat. | |
| Die schummrig beleuchteten Höfe der Kaserne sind eine Männerwelt, | |
| eigentlich für ein junges Mädchen unüberwindbar. Aber Marie Biheron lässt | |
| sich nicht aufhalten, fragt im Billardsaal die angetrunkenen Offiziere. | |
| Immer wieder bringt sie ihr Anliegen vor, mit geschickter Zurückhaltung, | |
| wohlgesetzten Worten und am Ende – nachdem sie einsieht, dass es keine | |
| Leichen zu kaufen gibt – mit einer unsichtbaren Flucht, die die Männer der | |
| ganzen Kaserne dumm dastehen lässt. | |
| Nicht ohne Grund stellt Christine Wunnicke diese Szene an den Anfang von | |
| „Wachs“, ihres neuen Romans. Es ist ein fiktives Ereignis, das nicht nur | |
| einen spannenden und rätselhaften Einstieg in ihren Roman liefert, sondern | |
| gleichzeitig eine weitere Bedeutung vermittelt. Wie viel Mut und | |
| Geschicklichkeit waren im 18. Jahrhundert vonnöten, um ein Metier zu | |
| erobern, das eigentlich Männern vorbehalten war. Wie schwierig war es, von | |
| der Tochter eines Kleinbürgers zu einem berühmten AnatomEN zu werden. | |
| „Strenggenommen müsse es Anatomin heißen“, sagt sie einmal zu ihrer | |
| Freundin, der Illustratorin und Malerin Madeleine Basseport, „doch mit wem | |
| sollte sich dieserart messen? Mit Fleischerin und der Köchin? Ich bin der | |
| beste Anatom von Paris, beharrte Marie; doch kein Beruf war ihr daraus | |
| erwachsen.“ | |
| ## Für Frauen nicht schicklich | |
| Viele ihrer Fertigkeiten musste sich Marie Biheron in London aneignen, galt | |
| doch in Frankreich die Beschäftigung mit Leichen für Frauen als nicht | |
| schicklich. Drei Mal wurde sie in ihrem Leben zu einem Vortrag von der | |
| französischen Akademie der Wissenschaften eingeladen, aber als | |
| Wissenschaftlerin bekam sie, weil sie eine Frau war, keine Anstellung. | |
| Trotzdem hatte sie Glück, denn Anatomie kam im Frankreich des 18. | |
| Jahrhunderts in Mode, sodass sie vom Unterrichten sowie vom Verkauf ihrer | |
| genauen, lebensnahen Modelle aus Wachs leben konnte. | |
| Madeleine Basseporte, die 18 Jahre älter war als Marie Biheron, war bereits | |
| eine bekannte Zeichnerin, als Marie bei ihr Zeichenunterricht nahm. Auch | |
| Basseporte hatte mit der Herrschaft der Männer zu kämpfen. Nach ihrer | |
| Ernennung zur Hauptzeichnerin des Jardin du Roi heißt es in einem von | |
| Wunnicke erdachten Brief an den schwedischen Botaniker Carl von Linné: | |
| „Dennoch, seit ich Hauptzeichnerin bin, erstelle ich nie ein Blatt, das der | |
| Intendant nicht überprüfte. Er kommt mindestens zweimal die Woche herein, | |
| schaut alles durch, sagt ‚schön, schön‘ und setzt seinen Namen hinzu. | |
| Monsieur Aubriet war ein Greis, der nichts sah und kaum stehen konnte. Ich | |
| zeichnete, als man mich seine Schülerin nannte, jahrelang seine Sachen.“ | |
| Christine Wunnicke lässt ihre beiden Protagonistinnen, die ein Liebespaar | |
| werden, ein leicht altertümliches Deutsch sprechen. Im Wissen, dass die | |
| unmittelbare historische Wahrheit nicht darstellbar ist, übersetzt sie | |
| überzeugend die Sprache der Zeit in ein eigenes, künstliches Idiom. Die | |
| Wahrheit ihres Romans liegt nicht im „So war es“, sondern im „So könnte … | |
| gewesen sein“. | |
| ## Fragmentarisches Wissen | |
| Und es ist natürlich viel Gegenwart in „Wachs“. Zeitlich springt Wunnicke | |
| kapitelweise von einem Abschnitt des Lebens ihrer Protagonistinnen in den | |
| anderen. Damit betont sie auch das fragmentarische Wissen über die | |
| Geschichte von Madeleine Basseporte und Marie Biheron, von der keines ihrer | |
| zahlreichen Wachsmodelle erhalten geblieben ist. Von ihrer Kindheit bis zur | |
| Zeit der Revolution, ihrer Freundschaft mit Denis Diderot bis kurz vor | |
| ihrem Tod in der Zeit des großen Terrors. | |
| Die zweite Bedeutungsebene scheint dabei immer wieder auf. „Das | |
| Fastentuch“, wie Christine Wunnicke ein Kapitel überschrieben hat, verbirgt | |
| traditionell in der Kathedrale Notre-Dame den Altarraum während der | |
| Fastenzeit und wird zur Metapher für den Verzicht auf die körperliche | |
| Liebe. „Warum blieben wir immer zusammen? Ein halbes Jahrhundert war fast | |
| schon vergangen, seit das Fastentuch fiel. Darauf war Marie immer noch | |
| stolz.“ | |
| Auch der Affe, den Marie Biheron aus dem Chaos des ersten Zoos im Jardin du | |
| Roi übernimmt, ist mehrdeutig. Sein Name – „Virginie“ – ist Persiflage… | |
| romantische Weiblichkeits- und Reinheitsfantasien, denn er ist ein | |
| männliches Tier. Er wird zur Metapher für die Abweichung von der Norm, denn | |
| er frisst Dinge, die ihm nicht guttun. Trotzdem nimmt ihn Marie am Ende in | |
| den Arm. | |
| 4 May 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Fokke Joel | |
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