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# taz.de -- Rechtsextremismus in der Literatur: Die große Differenz
> Wer das rechte Wahlverhalten in Österreich und Ostdeutschland verstehen
> möchte, muss sich mit dem Stadt-Land-Gefälle befassen.
Bild: Wahlergebnisse zeigen, dass mehr Menschen in der ostdeutschen Provinz rec…
Eine Familie zieht hinaus aufs Land, damit die Kinder in der Natur spielen
können, zumal nicht nur die Luft besser ist, sondern das Wohnen in der
Provinz auf absehbare Zeit preiswerter bleibt als im einst so geliebten
Szeneviertel.
Im Dorf aber verfliegt schon bald die Begeisterung für die üppige
Vegetation, für den zwischenzeitlich als authentisch wahrgenommenen
Umgangston unter den Einheimischen, denn nicht nur volkstümliche Bräuche,
auch andere Gepflogenheiten im penibel strukturierten Alltag irritieren die
Zuzügler aus der Stadt. Vor allem passen die Ressentiments, die am
Kneipentisch lautstark geäußert werden, ganz und gar nicht zum weiterhin
urban und von Weltoffenheit geprägten Lebensgefühl.
Die große Differenz zwischen Stadt und Land gehört zu den ergiebigsten
Themen in der Literatur. Im deutschsprachigen Raum scheint das Sujet seit
ein paar Jahren ganz besonders beliebt zu sein. Hierzulande konzentrieren
sich die literarischen Erkundungen oft auf das Verhältnis von Berlin und
dem recht weit gefassten Umland, wobei das Thema mittlerweile eine
politische Dimension erreicht hat.
Umfragen und Wahlergebnisse zeigen deutlich, dass ein wachsender
Bevölkerungsanteil in der ostdeutschen Provinz rechtsradikal wählt – was
ein literarisches Leben ebendort entweder besonders interessant oder
unmöglich macht.
Auf der Suche nach den Gründen landet man schließlich bei
Lebensgeschichten, die von autoritären Verhältnissen in der DDR geprägt
sind und die nicht so recht passen zur Erzählung vom globalisierten
Einheitsdeutschland. Dabei handelt es sich um ein Phänomen, das keineswegs
singulär ist.
## Gegensätze sind nur langsam zu überwinden
[1][Die Wahlen zum EU-Parlament] offenbarten, dass ähnliche
Identitätskrisen in vielen Regionen und Ländern stattfinden, dass die
politisch-ideologische Polarisierung in Europa tatsächlich über die
mentalen, sozialen, kulturellen, ökonomischen und demografischen
Unterschiede von Stadt und Land zwar nicht restlos, aber doch zu weiten
Teilen erklärt werden kann.
Aufschlussreich sind dabei die Erfahrungen in Österreich, wo seit dem Ende
des imperialen Habsburgerreichs das Verhältnis von Traditionsprovinz und
großspuriger Hauptstadt ganz besonders gestört ist. Ein Blick in die
aktuellen Romane und Erzählungen aus dem Nachbarland macht leider deutlich,
dass die Gegensätze in den städtischen und ländlichen Milieus nur sehr
langsam zu überwinden sind. Aber immerhin, Panik ist auch nicht angebracht
…
Der 1957 in Mautern in der Steiermark geborene Walter Grond gehört zu jenen
Publizisten Österreichs, die in Deutschland nur einem kleinen Publikum
bekannt sind, das literarische Leben im Nachbarland aber seit Jahrzehnten
prägen. Zwölf Romane hat er bislang veröffentlicht, Novellen, Essays und
Sachbücher. Er hat Zeitschriften herausgegeben und ist künstlerischer
Leiter der Europäischen Literaturtage in der Wachau. Mal abgesehen von
seinen organisatorischen Talenten, ist Grond ein Künstler der leisen und
formbewussten Prosa.
Das konnte zuletzt in seinem Roman „Drei Lieben“ bewundert werden, in dem
Grond über drei Generationen hinweg Liebesgeschichten erzählt, die von
großen gesellschaftlichen Brüchen und Umbrüchen geprägt sind. Der Autor hat
ein gutes Gespür für das Politische im Privaten, für Ängste in
gesellschaftlich unruhigen Zeiten.
Sein neuer Roman, „Sommer ohne Abschied“ (Haymon Verlag, 120 Seiten, 17,90
Euro) erzählt von einer Männerfreundschaft in einem Provinznest, das von
Wien aus schnell mit dem Auto zu erreichen, in lebensweltlicher Hinsicht
aber meilenweit von der Großstadt entfernt ist.
## Die Sinnfrage stellen
Der Witz an der Idylle ist, dass in ihr die ärgsten Klischees bestätigt
werden, und so merkt man oft nicht, wenn aus den guten Gefühlen schlechte
werden, wenn sich familiäre Routinen auch in der intakten, aber ewig
gleichen Natur einstellen und irgendwann das schönste Vogelgezwitscher
nicht mehr gehört wird. Dann nämlich begreift der Städter, was er am
meisten vermisst, nämlich Menschen mit ähnlichen Bedürfnissen, mit
ähnlichen Gedanken, mit dem Wunsch, das Naturerlebnis zu reflektieren, die
Sinnfrage zu stellen oder auch nur mal über die Schönheit nachzudenken.
„Es gab hier kein Flanieren und kein Untertauchen. Ich fühlte mich weder
aufgenommen, noch konnte ich mich abgrenzen. Und da ich täglich durch die
Straßen und hinaus auf die Wiesen und über die Wege zurück zum Rathausplatz
marschierte, hing mir – das spürte ich deutlich – sehr bald der Ruf nach,
ein verdächtiger Zeitgenosse zu sein.“
Alex, so heißt der fremdelnde Ich-Erzähler, hat irgendwann doch das Glück,
einen interessierten Gesprächspartner zu finden, nämlich den Unternehmer
Roland Fischer, der eine erfolgreiche Firma leitet, die Lichtkomponenten so
gut wie in die ganze Welt verkauft. So unterschiedlich die beiden sind, es
entwickelt sich eine Freundschaft, vielleicht auch mangels Alternative, wie
das in der kleinstädtischen Provinz nicht selten ist.
Bald schon wird im Ort über die regelmäßigen Herrenabende der beiden
gemunkelt, als gäbe es nichts Schlimmeres als Homosexualität. Doch es
handelt sich um Projektionen; zur bösen Realität gehört vielmehr, dass
Roland auf sein Smartphone stiert, auch wenn die beiden unterwegs sind.
Keine heimliche Geliebte ist der Grund für das Dauersurfen im Netz, sondern
die Politik scheint Roland zu fesseln, und zwar auf unangenehme Weise: Wir
befinden uns im Sommer 2015, als immer mehr Flüchtlinge aus Afrika den Weg
nach Europa suchen, und der polyglott auftretende Firmenchef entwickelt
sich allmählich zum Fremdenhasser. Oder war er es schon immer? Rolands
Großvater soll ja auch ein schlimmer Nazi gewesen sein. Die Freunde ahnen,
dass sie sich politisch nicht werden einigen können. Sie weichen einem
Streit aus.
## Beharren auf tradierten Mustern
Aber ist Sprachlosigkeit für Alex, den aufrechten Journalisten, überhaupt
eine Option? Wie kommt es, dass ein erfolgreicher Mann, der in Asien und
Afrika unterwegs ist und von technischer Innovation profitiert, einen
kulturellen Wandel, [2][der durch die Migration möglich sein könnte], auf
jeden Fall ausschließt?
Über die Dichotomie von Stadt und Land werden zwei grundverschiedene
Weltsichten deutlich, die mal radikaler, mal milder formuliert werden, die
aber auf absehbare Zeit kaum Berührungspunkte haben: Auf der einen Seite
ein Beharren auf tradierten Sprach-, Kultur-, Politik-, Wirtschafts- und,
ja, auch Liebesmustern, weil diese als „normal“ empfunden werden, selbst
wenn sie seit je große Nachteile für Frauen, Minderheiten, Flüchtlinge,
sozial und kulturell Benachteiligte einschlossen.
Auf der anderen Seite der Wunsch, gerechtere Verhältnisse zu realisieren,
nicht nur in Bezug auf das Verhalten der Menschen untereinander, sondern
auch hinsichtlich der ökologischen Lebensgrundlagen.
Alex wohnt noch eine Weile in der Provinz, sprachlos und ratlos, er scheint
auf jene unerhörte Begebenheit zu warten, die dem Weltlauf eine andere
Richtung gibt. Was im novellenhaften Roman, wie ihn Grond geschrieben hat,
möglich ist, weil der Erzähler die Geschichte formt, sieht im politischen
Gefecht freilich etwas anders aus. Dennoch ist der Verweis auf die etwas
aus der Mode gekommene Erzählform auch politisch zu verstehen: Warum das
entscheidende Ereignis nicht provozieren?
Im Grunde [3][kann das legendäre Ibiza-Video] als Kipppunkt der politischen
Erzählung in Österreich verstanden werden. Selbst wenn die hartgesottenen
Wähler der FPÖ ihrem Traditionsverein, der mit allen Traditionen bricht,
erst einmal treu geblieben sind.
Schriftstellerinnen und Schriftsteller brauchen keine Politik zu betreiben
bzw. politische Ratschläge zu erteilen. Wenn sie es doch tun, verheddern
sie sich nicht selten im Grenzgebiet von Fiktion und historischer
Argumentation, wie es etwa bei Robert Menasse der Fall war. Dennoch lassen
sich die aktuellen Romane von so unterschiedlichen österreichischen
Autorinnen und Autoren wie Doris Knecht („weg“), Norbert Gstrein („Die
kommenden Jahre“) oder Reinhard Kaiser-Mühlecker („Enteignung“) als
Geschichten der Flucht aus der traditionsradikalen Provinz lesen.
## Intellektuelles Gegengift zum identitären Gewaltporno
Bei Kaiser-Mühlecker drehen sich die geschickt angedeuteten Gerüchte um
einen renitenten Bauern, der um seinen Hof kämpft, sich gegen Windräder
wehrt, möglicherweise mit rechtsextremen Bewegungen sympathisiert,
jedenfalls auch von einem weitgereisten Journalisten heimgesucht wird. Am
Ende bleibt der Bauer, der Land und Liebe verliert, in seinem maroden
Mastbetrieb zurück, und der Schreiberling darf – wen wundert’s – nach
Berlin abhauen.
Es gäbe noch viele ähnlich gestrickte Beispiele zu nennen, und all diese
Werke sind Teil eines Gedankenstroms, an dem viele Größen der
österreichischen Literatur Anteil haben, etwa Thomas Bernhard, Elfriede
Jelinek, Marlene Streeruwitz, Josef Winkler. Deren wirkmächtige Texte, die
sich mit dem Kleinbürgermief auf sehr unterschiedliche, manchmal sogar
liebevolle Weise beschäftigen, bilden das intellektuelle Gegengift zum
identitären Gewaltporno, der ohnehin nur von einer Minderheit konsumiert
wird.
Die große Differenz mag eines Tages doch verschwinden, weil die erstarrten
Traditionen irgendwann zwangsläufig wegbrechen, auch weil ihre Verfechter
alt und noch älter werden, weil die rechte Propaganda noch
widersprüchlicher und noch skurriler wird.
Wer sich in Wien als Saubermann geriert und dann in Ibiza als Gangster
auftritt, wer sich in Dresden über deutschnationale Hetzreden freut und bei
jeder Gelegenheit mehr Respekt für die ostdeutsche Lebensleistung
reklamiert, wird von der Jugend jedenfalls nicht mehr ernst genommen.
Manchmal können trockene Wahlanalysen mehr Hoffnung machen als viele
hundert Seiten Literatur.
11 Jun 2019
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## AUTOREN
Carsten Otte
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