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# taz.de -- Roman über männliche Macht: Eine Schule der Skepsis
> Norbert Gstreins neuer Roman „Als ich jung war“ erzählt von
> Machtmissbrauch, Selbsmitleid, Lebenslügen und scheibchenweise
> eingestandener Schuld.
Bild: Die Enge Tirols hat auch immer mit dem Einfluss der Kirche zu tun
Wenn Norbert Gstreins Sätze lang und länger werden, geht es um alles. Um
die Liebe, um das Alter und den Tod, um Schuld und Sühne. Doch so
kompliziert die Satzkaskaden, so verwickelt die Gedanken.
Der 1961 in einer kleinen Tiroler Ortschaft geborene und heute in Hamburg
lebende Schriftsteller ist nicht nur ein intellektueller, sondern auch ein
sehr sinnlicher Autor, der zwischenmenschliche Untiefen mit
gesellschaftlichen Fragestellungen zu verbinden weiß, wie er das zuletzt in
seinem Roman „Die kommenden Jahre“ getan hat. Darin geht es um
Identitätskrisen und Ehekrisen, aber auch um die Migrations- und
Klimamisere. Das alles wird mit Fingerspitzengefühl erzählt, ohne die
Widersprüche und Verlogenheiten in diesen Themenfeldern auszusparen.
Am Anfang des neuen Romans „Als ich jung war“ schaut der Ich-Erzähler Franz
auf seine in vielerlei Hinsicht trostlose Jugend zurück: „Als ich jung war,
glaubte ich an fast alles, und später an fast gar nichts mehr, und
irgendwann in dieser Zeit dürfte mir der Glaube, dürfte mir das Glauben
abhandengekommen sein.“ Dass dem jugendlichen Franz nicht nur der
katholische Glauben, sondern das Glauben an jedwede Institution fremd
wurde, hat maßgeblich mit den familiären Verhältnissen zu tun, in denen der
Sohn eines Hotelbesitzers aufwächst.
## Franz, der Hochzeitsfotograf
Der Vater führt zwei Betriebe in den Tiroler Alpen, im Winter ein Skihotel,
im Sommer ein Restaurant, das zunächst ironisch, dann aber „von allen
ernsthaft“ die „Hochzeitsfabrik“ genannt wird, „ohne dass dadurch die
Anziehungskraft litt“. Woche für Woche kommen also die Paare aus den
umliegenden Dörfern, bald auch aus fernen Städten, um dort ihre sich
ähnelnden Hochzeiten zu feiern, zu denen es bald gehört, dass der
fünfzehnjährige Franz im Auftrag des Vaters Fotos von den Feiernden zu
machen hat.
Tatsächlich entwickelt der emsige Internatsschüler schon bald eine gewisse
Professionalität in der Inszenierung jener Bilder, die den angeblich
schönsten Tag im Leben der Brautleute festhalten sollen. Wie wenig die Ehe
aber mit echtem Lebensglück zu tun hat, weiß Franz nur zu gut, denn das
einzige Paar, das er wirklich kennt und das ihn verstört, sind Mutter und
Vater.
Denn die streiten nach getaner Arbeit immer wieder, man könnte auch sagen,
der Vater beschimpft auf üble Weise seine Frau, während die Söhne im
Nebenzimmer liegen und sich die Selbstmorddrohungen der Mutter anhören. Die
weiß sich gegen den rücksichtslosen Familienpatriarchen nur zu wehren,
indem sie unter Tränen ankündigt, wenn der Gatte sie weiterhin so schlecht
behandeln würde, gehe sie „ins Wasser“.
Der Suizid ist ein zentrales Motiv in dem düsteren Roman. Franz ist längst
zu Hause ausgezogen, studiert mal Medizin, mal etwas lustlos Anglistik und
Germanistik, übernimmt dann doch mal wieder den Job des
Hochzeitsfotografen, als sich eine Braut das Leben nimmt. Der Erzähler hält
das Unglück für eine Stellvertretertat für das, was die Mutter zum Glück
nie tat. Er hat die Braut, die mit gebrochenem Genick unterhalb eines
Felsvorsprungs liegt, noch kurz vor ihrem Tod fotografiert. Die Polizei
sucht auf den Bildern nach Hinweisen auf den Tathergang. Zwar deutet viel
auf einen Selbstmord hin, aber auch weil die Frau so gar nicht lebensmüde
wirkt, als sie in die Kamera schaut, wird Franz verdächtigt, mit ihrem Tod
etwas zu tun zu haben. Außerdem kommt heraus, dass der gar nicht mehr so
junge Hochzeitsfotograf wenige Tage zuvor ein junges, ein viel zu junges
Mädchen gegen seinen Willen geküsst hat, und zwar die virtuos Violine
spielende Cousine einer anderen Braut.
## Männer neigen zum Schubsen
Norbert Gstrein, so lautet eine der Botschaften des Romans, rät zum genauen
Hinsehen, entwickelt im Text und gegen den Text eine Schule der Skepsis.
Vor allem wenn Kausalketten als Naturgesetz verkauft werden. So entwirft
ausgerechnet eine Nonne eine Art Theorie des permanenten sexuellen
Übergriffs, der die Frauen zwangsläufig in den Abgrund führe. Viele Männer,
wenn nicht alle, sagt sie, würden dazu neigen, Frauen zu „schubsen“. Weil
Frauen ständig mit diesem Missbrauch der männlichen Macht zu leiden hätten,
brauche es oft nur einen letzten „Schubser“ und manchmal nicht mal den, um
dem Leben ein Ende setzen zu wollen.
Auf welche Weise Franz nicht nur das Mädchen, sondern auch die
möglicherweise depressive Braut „geschubst“ hat oder eben nicht, wird
zunächst offengehalten, denn der junge Mann sucht das Weite, haut nach
Wyoming ab, in einen luxuriösen Ferienort namens Jackson. Die
Missbrauchsgeschichte und die Schuld, die Franz sich beziehungsweise dem
lesenden Publikum nur scheibchenweise eingesteht, indem nämlich das Mädchen
von Kapitel zu Kapitel jünger wird, muss ihn zwangsläufig auch in den
Vereinigten Staaten verfolgen.
Dort schlägt er sich als Skilehrer durch und lernt einen tschechischen
Raketenphysiker kennen. Zwischen beiden entwickelt sich eine seltsame und
etwas einseitige Freundschaft, die zentral ist für den Verlauf des Romans.
Norbert Gstrein spiegelt sehr geschickt die Episoden in den USA an den
Figuren und Ereignissen in der österreichischen Heimat des Ich-Erzählers.
So erscheinen die Vorgänge in Tirol zwar nicht unbedingt in einem anderen
Licht, doch das Geschehen in der Ferne wirft erneut die Frage nach den
vermeintlich eindeutigen Kausalitäten auf.
Denn wieder wird Franz mit einem Selbstmord konfrontiert: Der befreundete
Physiker bringt sich um, und auf der Suche nach den Gründen steht der
Vorwurf im Raum, der Mann sei pädophil gewesen. War er aber nicht. Seine
verdrehten Ansichten und seine Verschwörungstheorien sind vielmehr einem
traumatisierenden Autounfall geschuldet, bei dem in jungen Jahren die
Eltern und die Schwester getötet wurden.
## Der feine Unterschied zwischen Lebenslüge und Gerücht
Norbert Gstreins schriftstellerische Könnerschaft zeigt sich nun darin, die
feinen Unterschiede von Lebenslüge, Gerücht und Schuld klar zu benennen und
gleichzeitig vor einfachen Zuschreibungen zu warnen. Der literarische Clou
dabei ist, dass ausgerechnet ein unzuverlässiger Erzähler ihm hilft, auf
diesem schmalen Erzählgrat zu wandeln.
Gstrein kennt die Untiefen, weiß um die Fallhöhe, und als gewiefter
Erzähler schickt er seine Figuren nicht selten in die Hölle des
Halbwissens. Erst zum Romanende wird klar, dass die moralische und –
nebenbei bemerkt – über jeden Zweifel erhabene Position des Schriftstellers
sich in der literarischen Konstruktion verbirgt. „Als ich jung war“ ist
eine Art Rechenschaftsbericht, vielleicht sogar ein Bußgang des
Ich-Erzählers, der seine Schuld offenlegen, der aber auch Schluss machen
will mit dem quälenden Selbstmitleid und der sich letzten Endes nach
Vergebung für ein vergleichsweise harmloses Vergehen sehnt. Insofern ist
Franz vielleicht der kindliche Glaube an den lieben Gott abhandengekommen,
die Lehren des Katholizismus aber prägen ihn weiterhin.
Es liegt durchaus nahe, den Roman vor allem als literarischen Kommentar zur
„MeToo“-Debatte zu lesen. Tatsächlich geht der Text viel weiter, versucht
er doch die Möglichkeiten und Grenzen des literarischen Schreibens über ein
solches „Thema“ auszuloten. Wie auch in den vergangenen Arbeiten formt
Gstrein schönste und grausamste Satzschlangen, in denen Doppelbödigkeiten
und Widersprüche gekonnt eingebaut werden. Gerade weil die mediale Welt von
Freund-Feind-Mustern geprägt ist, beschwört Gstrein die Kraft jener
Literatur, die sich gegen allzu eilige Schlüsse wehrt.
## Aus der Enge Tirols in die Weite amerikanischer Landschaft
Der Autor sieht sich dabei einer langen Erzähltradition verpflichtet, und
so durchzieht er seinen Roman mit zahlreichen Verweisen auf bekannte und
weniger geläufige Werke der Weltliteratur, die von rauschhafter Liebe, von
verbotenen Begierden und den Aporien von Jugend und Alter handeln. Da gibt
es Seitenhiebe auf Jane Austens Klassiker oder subtile Bezüge zur
erotisch-fantastischen Novelle „Aura“ von Carlos Fuentes.
Norbert Gstrein, so erfährt man auf einer weiteren Erzählebene dieses
beeindruckenden Prosawerks, hat sich zudem auf eine Reise in die Bilderwelt
der amerikanischen Literaturlandschaften begeben, die er wohl auch in
seinen nächsten Büchern fortsetzen wird. Statt in der Enge der Tiroler
Berg- und Talwelt, die sein Frühwerk prägte, findet Gstrein sein
literarisches Glück nun in grotesken Szenen, die eben nur in den Weiten der
USA zu erzählen sind. Auf einem Pick-up fährt Franz die Leiche des
Professors zu seiner letzten Ruhestätte durch ein Land, in dem Einsamkeit
auch für die Freiheit steht, wenn da nicht immer wieder grimmige
Highway-Polizisten aufträten. Nicht zuletzt in diesen so ruhigen wie
beängstigenden Roadmovie-Passagen zeigt Norbert Gstrein, dass er derzeit zu
den raffiniertesten Schriftstellern deutscher Sprache zählt.
13 Aug 2019
## AUTOREN
Carsten Otte
## TAGS
Literatur
Schwerpunkt #metoo
Macht
Roman
Pädophilie
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deutsche Literatur
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