Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Neuer Roman über Berlin: Satan und Studiengruppe
> Der Konkurrenzkampf an einer Ost-Berliner Theaterhochschule ist tödlich.
> Davon erzählt Christiane Neudecker in „Der Gott der Stadt“.
Bild: „…Auf den Spuren eines genialen Künstlers“. Theaterprobe 2013 zu �…
Diese Schriftstellerin ist eine Sprachhexe. Christiane Neudecker lockt ihr
Publikum gern in ein geheimnisvolles Erzählhäuschen, in dem freilich nicht
geknuspert werden darf, sondern alles, was mit heiligem Ernst eingeführt
wurde, schließlich im literarischen Höllenofen landet. Der Romantitel „Der
Gott der Stadt“ bezieht sich auf das gleichnamige Gedicht von [1][Georg
Heym, dem legendären Düsterpoeten], der 1912 mit 24 Jahren beim
Schlittschuhlaufen ins Eis der Havel einbrach.
Heym hinterließ ein schmales, aber bedeutendes Werk mit expressionistischer
Lyrik, Dramenfragmenten und Novellen. Bei Heym ist der Gott der Stadt ein
blutrünstiger Baal, der sich am urbanen „Korybanten-Tanz“ ergötzt, an den
orgiastischen Ritualen jener Dämonen, die nach antiker Vorstellung die
Göttermutter Kybele begleiten: „Auf einem Häuserblocke sitzt er breit. /
Die Winde lagen schwarz um seine Stirn. / Er schaut voll Wut, wo fern in
Einsamkeit / Die letzten Häuser in das Land verirrn.“
Von Irrungen und Wirrungen sehr unterschiedlicher Art erzählt auch
Neudeckers Roman, in dem die Götter immer auch ihre teuflischen Seiten
zeigen. Ein berühmter Regisseur und Theatergott namens Korbinian Brandner
übernimmt jedenfalls 1995 an der Ost-Berliner Hochschule für
Schauspielkunst Erwin Piscator einen neuen Regie-Jahrgang. Katharina,
Tadeusz, Schwarz, François und Nele haben die fünf begehrten Plätze
ergattert, und gleich zu Beginn des Studiums müssen sie sich beweisen.
## Lustiges Spiel wird bitterböser Theaterernst
Brandner hat eine Prüfung angesetzt, die wie ein lustiges Studienspiel
anmutet und sich als bitterböser Theaterernst entpuppt. Aus einem
rätselhaften Faust-Fragment Georg Heyms soll eine vorzeigbare Inszenierung
entstehen, die pünktlich zum Todestag des Dichters auf einer Probebühne
aufgeführt werden soll.
Brandner, ganz Schauspielsatan, schwört die eingeschüchterte Studiengruppe
in weihevollem Ton ein: „Sie werden sich auf ein Abenteuer begeben, auf die
Spuren eines genialen Künstlers. […] Sie werden seine Zerrissenheit spüren,
seine Qualen, sein Genie. Sie werden seinen Dämonen begegnen – und Ihren
eigenen.“
Die eigenen Dämonen lernen die fünf Regielaien schon allein deshalb kennen,
weil Brandner jedem Zögling unterschiedliche Bruchstücke des Fragments
zuteilt, die zunächst in Eigenregie analysiert und interpretiert, dann aber
zusammen mit den Kommilitonen für die Bühne erarbeitet werden müssen. Neid
beherrscht das Team, das keines ist.
Welche Recherchen, fragen sich die überengagierten Studienanfänger, müssen
geteilt, welche Informationen besser für sich behalten werden, um beim
großen Schauspielmeister zu punkten? Das alte Faust-Thema ist näher, als
die Ich-Erzählerin Katharina zunächst glaubt. Muss sie sich mit dem Teufel
einlassen, um den angebeteten Professor zu überzeugen? Oder sollte sie
besser gegen die in ihrer Männermacht so herablassende Professorengarde
rebellieren, wie es Schwarz tut?
Der Konkurrenzkampf macht die Protagonisten zu Bühnenfiguren, die ihre
Stärken und Schwächen im Scheinwerferlicht nur schlecht verbergen können.
Neudecker leuchtet ihre so widersprüchlichen und gerade deshalb
sympathischen Helden in jeweils eigenen Kapiteln aus, die in personaler
Erzählperspektive gehalten sind. Ein probates Mittel, um nicht nur die
Glaubwürdigkeit Katharinas, also die der zentralen Erzählstimme, zu
erschüttern, sondern auch die Ängste und Neurosen, vor allem aber die
Missgunst untereinander darzustellen.
Dermaßen schwer lastet der psychische Druck auf den fünf, dass der
Sensibelste nur im Tod einen Ausweg zu finden scheint. Ist der spektakuläre
Suizid womöglich der letzte Versuch eines verzweifelten Schülers, um dem
morbiden Heym-Fragment gerecht zu werden? Oder handelt es sich um einen
teuflischen Racheakt gegenüber der Prüfungskommission, die nun am medialen
Pranger steht?
Die Schlagzeilen verfehlen ihre Wirkung jedenfalls nicht, zumal bald
herauskommt, dass der Theatergott zu DDR-Zeiten einen Pakt mit dem
Stasi-Teufel eingegangen ist, um die eigene Karriere voranzutreiben.
Der Clou des Romans aber besteht vor allem darin, dass die Autorin Lyrik,
Prosa und Drama miteinander verbindet, dass sie die literarischen Gattungen
in ein produktives Verhältnis setzt, ohne ihre Eigenständigkeiten zu
schleifen. Neudecker nimmt das narrative Moment der expressionistischen
Lyrik ernst und erzählt mit dem rauschhaften Treiben der Theaterschüler im
nasskalten Nachwende-Berlin tatsächlich eine Art Korybanten-Tanz.
Die Autorin, die selbst an einer Berliner Schauspieluni studiert hat, weiß
aber auch, dass sich nicht aus jedem Fragment eines genialen Dichters ein
gutes Theaterstück inszenieren lässt. Wenn nämlich der größte
Sprachkünstler zwischendurch mal etwas aufs Papier kritzelt, das die
Nachwelt besser nicht überbewerten sollte.
## Spannungselemente wechseln ab mit Seelenlandschaft
Neudeckers Prosapoesie beeindruckt, weil sie die Sprach- und Motivebenen
kunstvoll miteinander verknüpft, ohne mit dem literarischen Geflecht
anzugeben. Wenn die Textrecherche der Theaternovizen ins Akademische zu
kippen droht, spielt Neudecker plötzlich mit Spannungselementen. Wenn man
wiederum einen Thriller zu lesen meint, wechselt die Autorin erneut den
Tonfall und fasziniert mit ausdrucksstarken Beschreibungen von Seelen- und
Natur- und Stadtlandschaften.
Kaum hat man sich die Frage gestellt, ob der Roman nicht zu sehr auf
poesienostalgische Stimmungen setzt und vielleicht etwas in die Breite
geht, überrascht Neudecker mit rasanten Monologen etwa des Einzelgängers
Schwarz, der zu den stärksten Figuren des Romans gehört.
Wie sich dieser hochbegabte Rücksichtslose durch sein riskant-lustvolles
Leben schlägt, wie er sich mit Drogen vollpumpt, aber doch den klarsten
Blick aufs Theaterstudium hat, ist überzeugend formuliert und zeigt die
literarischen Fähigkeiten Neudeckers, die sich in der Rollenprosa radikaler
Charaktere ganz besonders entfalten.
20 Nov 2019
## LINKS
[1] /100-Todestag-von-Georg-Heym/!5103089
## AUTOREN
Carsten Otte
## TAGS
Roman
Christiane Neudecker
Georg Heym
Theater
Literatur
Rezension
## ARTIKEL ZUM THEMA
Roman über männliche Macht: Eine Schule der Skepsis
Norbert Gstreins neuer Roman „Als ich jung war“ erzählt von
Machtmissbrauch, Selbsmitleid, Lebenslügen und scheibchenweise
eingestandener Schuld.
Roman „Blauwal der Erinnerung“: Auf den Spuren des Verschwundenen
Geglücktes Wagnis: Tanja Maljartschuk verbindet die Geschichte eines
ukrainischen Volkshelden mit dem traurigen Liebesleben einer
Schriftstellerin.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.