# taz.de -- 100. Todestag von Georg Heym: Er brauchte Stürme | |
> In seiner Lyrik thematisierte Georg Heym die Ängste und Visionen einer | |
> ganzen Generation. Zum Zeitpunkt seines frühen Todes gilt er als | |
> Hoffnungsträger der modernen Lyrik. | |
Bild: Heym beschäftigte sich immer wieder mit der Isolation in der Großstadt. | |
"Stör ma nich! Ick dichte." Mit derb Berliner Schnauze fertigt Georg Heym | |
einen ungebetenen Besucher ab, als er im Jahr 1910 inmitten tosenden | |
Verkehrslärms auf seinem hauptstädtischen Balkon sitzt und sich dem widmet, | |
was er am besten kann. | |
Das Dichten nimmt er wichtiger als alles andere, außer vielleicht sich | |
selbst. Heym ist ein Exzentriker, und exzentrisch ist auch seine Lyrik, die | |
bis heute kein Stück ihrer oft infernalischen, immer faszinierenden | |
Ausdruckskraft eingebüßt hat. "Ich bin in Wüsten eine große Stadt / Hinter | |
der Nacht und toten Meeren weit. / In meinen Gassen herrscht stets wilder | |
Zank / Geraufter Bärte. Ewig Dunkelheit", beginnt das Gedicht "Stadt der | |
Qual". | |
Heyms Lyrik thematisiert die eigene abgründige Befindlichkeit. Die aber | |
steht stellvertretend für den Nerv einer ganzen Generation in einer | |
ominösen Zeit, die in den konkreten Abgrund des Ersten Weltkriegs mündet. | |
So wächst die Poesie in Form eines symptomatischen Unbehagens angesichts | |
einer bedrohlichen Gegenwart über die übersteigerte Subjektivität hinaus: | |
"Und Schein und Feuer, Fackel rot und Brand, / Die drohen im Weiten mit | |
gezückter Hand / Und scheinen hoch von toter Wolkenwand" (Die Stadt). | |
Heym, 1887 im schlesischen Hirschberg geboren und einer der herausragenden | |
Vertreter des literarischen Expressionismus, erlebt die in seiner Dichtung | |
vielfach beschworenen, im Krieg Realität gewordenen apokalyptischen | |
Szenarien selbst nicht mehr. Am 16. Januar 1912 bricht er beim | |
Schlittschuhlaufen in der Nähe von Schwanenwerder ins Eis ein und ertrinkt | |
in der Havel. Einen kurzen, aber sehr instruktiven biografischen Essay mit | |
dem Titel "Georg Heym: ,Ich, ein zerrissenes Meer'" hat der Publizist | |
Gunnar Decker soeben vorgelegt. | |
## "Schatten des Lebens" | |
Zum Zeitpunkt seines Todes ist Heym 24 Jahre alt und gilt in eingeweihten | |
Kreisen als genialer Hoffnungsträger moderner Lyrik, der er einen neuen, | |
nicht eben heiteren Sound und eine gewaltige Bildkraft einverleibt hat. | |
Veröffentlicht hat der Verehrer Baudelaires, Rimbauds und ihrer Ästhetik | |
des Hässlichen zu Lebzeiten nur den Gedichtband "Der ewige Tag". 1912 | |
erscheint aus dem Nachlass ein weiterer mit dem von seinen Freunden | |
gewählten, signifikanten Titel "Umbra Vitae, Schatten des Lebens". | |
1913 folgt die Novellensammlung "Der Dieb", die mit Themen wie | |
großstädtischer Anonymität und Isolation, ausbrechendem Wahnsinn und | |
Amoklauf, Splattermotiven und einer sehr unmittelbaren Erzählhaltung auch | |
hundert Jahre später keinen Staub angesetzt hat. Diese und andere | |
Prosatexte des Nietzsche-Sympathisanten und Hölderlin-Bewunderers | |
beeindrucken und verstören in ihrer düsteren Motivik und Neuartigkeit im | |
Ton. | |
Die von Ernst Ludwig Kirchner prachtvoll illustrierte und heute im | |
Kunsthandel für etwa 13.000 Euro gehandelte "Umbra Vitae"-Ausgabe von 1924 | |
ist bei Reclam im preiswerteren Reprint greifbar, ergänzt um ein Beiheft | |
mit Aufsätzen der Kirchner-Expertin Anita Beloubek-Hammer und des | |
Heym-Fachmanns Gunter Martens, der auch eine empfehlenswerte, einbändige | |
Georg-Heym-Werkausgabe herausgegeben hat, ebenfalls bei Reclam. | |
## Poesie, die den Weltuntergang antizipiert | |
Kirchner war ein Bewunderer des jung Verstorbenen, der sich wiederum als | |
verhinderter Maler sah: "Mir hat der Satan die Kunst des Malens versagt", | |
notiert Heym, dem das Dichten "so unendlich leicht" fällt, 1911 frustriert | |
in sein Tagebuch. Gleichzeitig erinnern viele seiner Gedichte an die | |
Malereien der expressionistischen Avantgarde, aber auch an Goya oder die | |
dämonischen Szenarien eines Hieronymus Bosch. | |
Das Buch enthält inmitten von Weltschmerz und Elend eines der schönsten | |
Gedichte des Jahrhundertwechsels, welches gleichzeitig eines der zartesten | |
Heyms ist: "Deine Wimpern, die langen, / Deiner Augen dunkele Wasser, / | |
Lass mich tauchen darein, / Lass mich zur Tiefe gehn … Manchmal wollen wir | |
stehn / Am Rand des dunkelen Brunnens, / Tief in die Stille, / Unsere Liebe | |
zu suchen". | |
Melancholie und Verzweiflung, Urängste, apokalyptische Visionen, deren | |
Vorboten er verschlüsselt im Alltag der Großstadt findet: Heym, selbst auf | |
dem Land aufgewachsen und erst im Alter von 13 Jahren nach Berlin gezogen, | |
verortet die Kunst da, wo sie wehtut. Seine Poesie ist dunkle Poesie, die | |
den Weltuntergang antizipiert. | |
Und er beschreibt das, was ihn unmittelbar umgibt: Armut, Arbeiterelend, | |
Krankheit, Alkoholismus und Prostitution, eine großstädtische Tristesse, | |
die im Kontrast zu ländlichen, in der Erinnerung gespeicherten Motiven | |
steht. "Mein Gehirn rennt immer im Kreise herum wie ein Gefangener, der an | |
die Kerkertür haut. Ich brauche Erschütterungen, Stürme, Qualen. - Na - die | |
Qualen habe ich." | |
16 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Tobias Schwartz | |
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