Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Zum Tod von Ernst Augustin: Fantastischer Fantastiker
> Der einzigartige, satirische, unterschätzte Schriftsteller Ernst Augustin
> ist tot. Er stand für ein Genre- und Denkkategorien weitendes Erzählen.
Bild: Der Schriftsteller Ernst Augustin bei der Frankfurter Buchmesse, 2003
Beinahe wäre Ernst Augustin berühmt geworden. 1966 war er zur Tagung der
Gruppe 47 nach Princeton eingeladen gewesen. Er las in diesem
Kritiker-Haifischbecken einen Romanauszug, der sehr gut ankam. Man redete
viel und lobend von ihm.
Dann allerdings meldete sich noch am selben Tag ein Kärntner Jungspund mit
Beatles-Frisur zu Wort, beschimpfte die versammelte Autorenriege – und
keiner beachtete mehr Ernst Augustin. [1][Peter Handke] hatte die Tagung
eindeutig gekapert; schon damals war er für einen Skandal gut.
Ernst Augustin hat das nicht sonderlich angefochten. Das Erlebnis war eine
schöne Anekdote, die er später erzählen konnte. Auf den Literaturbetrieb
und das Schreiben zum Broterwerb war er niemals angewiesen gewesen, und ein
bescheidener Ruhm unter Kennern genügte ihm vollauf. Immerhin hatte der
1927 in Hirschberg im Riesengebirge geborene Autor einen anständigen Beruf
erlernt, der ihn ordentlich ernährte.
Zunächst arbeitete er als Unfallchirurg in Wismar, später als Psychiater an
der Ost-Berliner Charité. 1958 siedelte er in den Westen über, und er
nutzte die gewonnene Freiheit ausgiebig aus. Drei Jahre lang leitete er ein
amerikanisches Krankenhaus in Afghanistan; in dieser Zeit schrieb er seinen
ersten, experimentellen Roman, „Der Kopf“, der 1962 im Piper Verlag
erschien.
## Wirklichkeit und Wahn, Bewusstes und Unbewusstes
Schließlich war er über Jahrzehnte als psychiatrischer Gutachter tätig und
unternahm immer wieder lange Reisen in die entlegensten Erdgegenden. Beides
– sowohl die seelischen Abgründe, mit denen er professionell konfrontiert
war, als auch die Erkundung der Welt – hatte gehörigen Einfluss auf sein
Schreiben.
In seinen Büchern, von den frühen Romanen wie „Mamma“ (1970) oder
„Raumlicht“ (1976) bis zu seinem späten Abenteuerroman „Robinsons blaues
Haus“ (2012), verwischen sich häufig die Grenzen zwischen Wirklichkeit und
Wahn, Fantasie und Fantastik, Bewusstem und Unbewusstem.
Die Literatur war für ihn wie ein Gebäude mit tausend Türen, und hinter
jeder konnte sich ein ganz eigener, verwinkelter, wiederum zu etlichen
weiteren Zimmern führender Raum verbergen. Es ist ein alle Genre- und
Denkkategorien weitendes Erzählen, und mit seiner Sprache gelang es
Augustin, bis in die tiefsten inneren Provinzen seiner Figuren vorzudringen
wie auch komplizierte architektonische Strukturen zu erschaffen.
Das Haus, das er sich zusammen mit seiner Frau in München entworfen hatte,
war geradezu eine Materialisierung seiner literarischen Vorstellungskraft:
ein Labyrinth von unterschiedlichsten Erfahrungsstätten, inklusive
englischer Bibliothek, Muldengewölbe, einer Sonnenbank in Form eines
Schlafwagenabteils, antik anmutender Loggia oder einem Diskokeller, in dem
Augustin seiner Tanzleidenschaft nachgehen konnte.
## Trost und Transzendenz
In seinem Roman „Der amerikanische Traum“ (1989) führte Ernst Augustin auf
eindrucksvolle Weise vor, zu was Literatur für ihn in der Lage ist – Trost
und Transzendenz: Wir befinden uns im Jahr 1944; ein Junge fährt mit dem
Fahrrad Richtung Schwerin, als eine amerikanische Douglas ihn als
feindliches Objekt ins Visier nimmt und tödlich trifft. Während sein Leben
ausgehaucht wird, trägt ihn die Fantasie noch einmal weit davon.
Weil er ein großer Leser amerikanischer [2][Detektivromane] war, verwandelt
er sich in seinen letzten Momenten in den Private Eye Hawk Steen, der seine
Mörder in einer turbulenten Jagd durch die USA verfolgt. Wenige Sekunden
weiten sich so zu einer 270 Seiten langen Gangstergeschichte. Hawk Steen,
das ist natürlich eine lautspielerische Variante von Augustin: Am Sonntag
ist dieser einzigartige, fantastische, satirische, sprachverliebte, ja, und
auch komische Autor im Alter von 92 Jahren verstorben. Gewiss hat er noch
in seinen letzten Lebensminuten einen ganzen Roman ersonnen.
5 Nov 2019
## LINKS
[1] /Nobelpreis-fuer-Peter-Handke/!5633070
[2] /Krimi-Klassiker-aus-Italien/!5588264
## AUTOREN
Ulrich Rüdenauer
## TAGS
deutsche Literatur
Ernst Augustin
Literatur
Buchpreis
Deutscher Buchpreis
Deutscher Buchpreis
Schlagloch
Historischer Roman
Literatur
## ARTIKEL ZUM THEMA
Nobelpreis für Peter Handke: Wege des Weltverstehens
Der Nobelpreis für Peter Handke war kein Fehler. Literatur handelt eben vom
Menschlichen und damit immer auch von Fehlbarkeiten.
Fran Ross' Roman „Oreo“: Superheldin auf Suche
Afroamerikanerin, Jüdin, leidenschaftliche Autorin: Fran Ross und ihr 1970
erstmals erschienener Roman „Oreo“ wurden wiederentdeckt.
Roman über männliche Macht: Eine Schule der Skepsis
Norbert Gstreins neuer Roman „Als ich jung war“ erzählt von
Machtmissbrauch, Selbsmitleid, Lebenslügen und scheibchenweise
eingestandener Schuld.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.