# taz.de -- Nobelpreis für Peter Handke: Wege des Weltverstehens | |
> Der Nobelpreis für Peter Handke war kein Fehler. Literatur handelt eben | |
> vom Menschlichen und damit immer auch von Fehlbarkeiten. | |
Bild: Zwischen Licht und Schatten | |
„Bist du schon mal von Tolstoi gekommen? – Ne, meistens von Oralsex.“ So | |
oder ähnlich geht der Witz, der neben viel Ad-hoc-Entrüstung auf die | |
Verkündung des Literaturnobelpreises an Peter Handke folgte. | |
Da stand einer in seiner Heimatstadt und sagte einer Gruppe Journalisten, | |
die sich wenig für seine Literatur, eigentlich nur für seine Begegnungen | |
mit dem als Kriegsverbrecher angeklagten Slobodan Milošević interessierten, | |
von Homer, Cervantes und Tolstoi zu kommen, andere standen im Hier und | |
Jetzt und kritisierten ihn via Twitter und Facebook dafür, dass er im Hier | |
und Gestern bis zu Milošević’ Grab gegangen war. Vielen schien bei der | |
Beweislast auf den ersten Blick klar, welche Seite [1][die richtige ist], | |
und auf der ist man ja immer gern, es sei denn, man ist zufällig Peter | |
Handke. | |
Weil man auf der richtigen Seite eh alles richtig macht, nahmen die | |
Empörungen mitunter recht bizarre Formen an, von Witzen und Echauffierung | |
oft nur des Hörensagens (der hat ja mal … geht ja gar nicht … ne, gelesen | |
hab ich nichts von dem, und jetzt erst recht nicht!) bis zu | |
Clownsauftritten war alles dabei. Vielleicht ist das mit dem ausbleibenden | |
Tolstoi-Orgasmus auch gar nicht so sehr ein Witz als vielmehr Ausdruck | |
davon, dass viele von jenen, die in tagespolitischer Tweetsprache zu Hause | |
sind, tatsächlich noch nie von Weltliteratur in Ekstase geraten sind und | |
sich einen langfristigen Aufenthalt dort gar nicht vorstellen können oder | |
wollen. | |
Womit ein Grund gefunden wäre für die Missverständnisse zwischen | |
Handke-Kritikern und -Verteidigern der ersten Empörungswelle: Man spricht | |
in zwei so unterschiedlichen Sprachen von der und über die Welt, dass man | |
die Gegenseite gar nicht ernst nehmen kann, man findet sie je nachdem | |
verschwurbelt oder verkürzt, in jedem Fall grundfalsch. | |
Dabei ist dies eine der wenigen Feuilletondebatten, die sich wirklich zu | |
führen lohnt, ein Streit, in dem politische und literarische Fragen mit | |
großem Gewicht zusammenkommen. In der Kontroverse um die hohe literarische | |
Auszeichnung an einen intellektuell wie literarisch herausragenden Autor, | |
der sich zugleich im Politischen, in der „sogenannten“ Wirklichkeit, die | |
für andere eine [2][ausbuchstabierte Hölle] gewesen ist, so weit verrannte, | |
dass es Folgen hatte weit über die Feuilletonblase hinaus, stehen uralte | |
wie hochaktuelle Fragen in einem nicht ganz so leicht zu entwirrenden | |
Zusammenhang. | |
Da ist zum einen die Frage, wie fehlbar jemand sein darf, der Großes | |
geleistet hat. Man muss nicht bis zu Knut Hamsuns nationalsozialistischer | |
Parteinahme zurückgehen und diesen schiefen Vergleich bemühen, man kann auf | |
dem Balkan der 1990er Jahre bleiben. | |
Recht offenkundig sei „die Erkenntnis, dass der Bosnienkrieg für | |
Westeuropäer in Vergessenheit geraten ist – anders ist Handkes | |
Nobelpreisgewinn jedenfalls nicht zu erklären“, [3][meinte Tijan Sila am | |
Wochenende in dieser Zeitung]. Allerdings sind, wenn man dieser Annahme | |
folgt, die Katastrophen der jüngsten Vergangenheit noch schneller in | |
westeuropäische Vergessenheit geraten, als an Handke zu sehen wäre. | |
Der Genozid in Ruanda geschah unter den Augen der UN-Blauhelmsoldaten, die | |
trotz wiederholter Bitten an das Headquarter in New York nicht verstärkt | |
wurden, ihr Mandat nicht erweitert. Das fatale Scheitern der Blauhelme im | |
Angesicht eines Genozids wiederholte sich im Folgejahr in Srebrenica. | |
Seinerzeit in New York verantwortlich dafür war Kofi Annan. Er erhielt den | |
Friedensnobelpreis 2001 paritätisch mit der UNO, deren Generalsekretär er | |
mittlerweile war. | |
Nicht wenigen galt er zum Zeitpunkt der Verleihung längst als perfekte | |
Verkörperung der UN-Ideale, vielleicht, weil man seine Rolle Mitte der | |
1990er vergessen hatte oder weil Annan zuvor verständliche reumütige Worten | |
gefunden hatte. Es unterscheidet den Diplomaten Annan vom Schriftsteller | |
Handke, es unterscheidet auch ihre Sprache. | |
Wer nur im Politischen bleibt, übersieht den zweiten Kern des Streits, die | |
Frage, was Literatur ist und kann, wie weit sie irritieren, provozieren, | |
wehtun darf, und ebenso, was mit poetischer Enthobenheit geschieht, wenn | |
der Schriftsteller zum „verdächtigen Zeugen“ wird. Der Streit handelt von | |
einem literarische Sprechen, das sich vorauseilender Sicherheiten zu | |
widersetzen versucht, und von Politik, die das literarische Sprechen | |
kapert, von einem Elfenbeinturm, der gestürmt wird oder von selbst | |
einstürzt. | |
Was passiert, wenn einer mit Kafkas „Prozess“ in der Hand ein | |
Kriegsverbrechertribunal besucht? Was passiert, wenn jemand, der schon mit | |
Mitte zwanzig das Engagement von der Literatur verwies („Die literarische | |
Form verfremdet das ihr eingeordnete Engagement“, schrieb Handke 1966 und | |
weiter: „Denn engagieren kann man sich nur mit Handlungen und mit als | |
Handlungen gemeinten Wörtern, aber nicht mit den Wörtern der Literatur“), | |
am Grab Milošević’ steht und die fragwürdige Bühne einer poetischen | |
Eindeutigkeitskritik sich als viel stärker erweist als die Aufführung | |
selbst? | |
Es geht bei Handke nicht allein um einen politischen, sondern auch um einen | |
poetologischen Irrtum. Wer meint, dass poetologische Fragen im Angesicht | |
von Kriegsverbrechen nicht zählen, übersieht, dass mit ihnen verhandelt | |
wird, ob Deutungshegemonien in der Gegenwart nur noch politisch und | |
ökonomisch zu denken sind oder ob es noch andere Formen des Weltverstehens | |
gibt. Es ist ein zweifelndes Fragen, was das denn ist, worauf wir stehen | |
und über das wir uns so eindeutig zu verständigen meinen. | |
Es sind Fragen im Abseits unserer mutmaßlichen Sicherheiten, und die sind | |
heute so wichtig wie je. Es bewahrt nur nicht automatisch davor, auch dort | |
fehlzugehen. Aber Literatur handelt eben vom Menschlichen und damit immer | |
auch von Fehlbarkeiten. Ein Denken, das diese nicht aushält, nur noch | |
Geschichten über unfehlbar gute Menschen und eindeutig böse Irrgänger | |
erschafft, würde ich in Literatur wie in Politik gleichermaßen fürchten. | |
23 Oct 2019 | |
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## AUTOREN | |
Nora Bossong | |
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