# taz.de -- Kritik an Nobelpreis für Peter Handke: Amnesie eines Autors | |
> Allerorts gibt es Empörung über die Prämierung Peter Handkes. Die Kritik | |
> an seiner Haltung zur Rolle Serbiens im Jugoslawienkrieg ist berechtigt. | |
Bild: Peter Handke in seinem Garten in Chaville bei Paris | |
An dem Tag, als die Nachricht von der Verleihung des | |
[1][Literaturnobelpreises an Peter Handke] bekannt wurde, waren wir, die | |
Gruppe „taz-Reisen in die Zivilgesellschaft“, gerade in Srebrenica. Wir | |
hörten Azir zu, wie er als 13-jähriger Junge in Potocari bei Srebrenica in | |
der Masse der mehr als 40.000 Menschen stand, die an diesem 11. Juli 1991 | |
alle in die UN-Kasernen drängten. | |
Hinter ihnen kamen die serbischen Truppen. Die niederländischen UN-Soldaten | |
weigerten sich, mehr als 6.000 Menschen auf ihr Gelände einzulassen. Die | |
Serben, unter ihrem General Ratko Mladić, begannen die Männer von Frauen | |
mit Kindern zu trennen. Die Menschen mussten durch Checkpoints gehen, die | |
Männer links, die Frauen und Kinder rechts. Azir gelang es, bei den Frauen | |
zu bleiben und dann zusammen mit seiner Mutter mit einem Lastwagen nach | |
Tuzla „ins befreite Gebiet“ in Sicherheit gebracht zu werden. Er hatte | |
Glück. | |
Andere halbwüchsige Jungen mussten wie sein ein Jahr älterer Bruder | |
zusammen mit den Männern gehen. Wenig später wurden schon Hunderte Männer | |
erschossen. Sein Bruder schloss sich der Kolonne von mehr als Zehntausend | |
an, die nach Tuzla fliehen wollten. Er wurde bei den folgenden Massakern | |
und Hinterhalten getötet. Die serbische Soldateska ermordete in den | |
folgenden Tagen 8.377 Männer aus Srebrenica. | |
Die Serben nahmen „Rache an den Türken“, wie Mladić es ausdrückte, wegen | |
der in der serbischen Mythologie angeblich verlorenen Schlacht von 1389 | |
gegen die Osmanen in Kosovo Polje. Mladić’ „Feinde“, die „Türken“, … | |
600 Jahre danach die slawisch-muslimische Bevölkerung von Srebrenica, | |
ethnische Slawen wie die Serben, eine Zivilbevölkerung, die noch vor dem | |
Krieg in Jugoslawien ein beschaulich-sicheres Leben mit ihren serbischen | |
Nachbarn geführt hatte. Dann das Inferno. | |
Azir hatte damals Todesangst. Die Opfer von Srebrenica oder die Opfer aus | |
den Konzentrationslagern in Prijedor und anderswo in Bosnien sind bis heute | |
Gefangene ihrer Todeserfahrung. Sie sind traumatisiert. | |
Die Täter aber sind frei. Und werden freigesprochen. [2][Auch durch den | |
prominenten Schriftsteller.] Für die Opfer wie Azir hat er kein Wort übrig. | |
Peter Handke war ein Jahr später an diesem Ort des Schreckens. Er konnte | |
alles wissen. An den Mauern von nahegelegenen Ställen waren noch die | |
Blutflecken der Hingerichteten zu sehen. Dann fuhr er nach Pale, dem | |
oberhalb Sarajevos gelegenen Kriegshauptquartier der serbischen Führung in | |
Bosnien, um Radovan Karadžić, ihren politischen Führer, zu sprechen. Damals | |
schon bereitete das UN-Tribunal gegen Kriegsverbrechen in Jugoslawien in | |
Den Haag die Anklage gegen Karadžić und Mladić vor. Das focht jedoch Handke | |
nicht an, er plauderte freundlich mit dem Kriegsverbrecher. | |
Spätestens nach dem Besuch in Sarajevo hätte er spüren müssen, dass er | |
falsch lag. Er traf den damaligen österreichischen Botschafter Valentin | |
Inzko, der wie Handke selbst der slowenischen Minderheit in Kärnten | |
angehört und persönlich mit ihm verbandelt ist. Schließlich „ging er ein | |
Jahr mit meiner Schwester“, sagt Inzko heute, immer noch als Hoher | |
Repräsentant der internationalen Gemeinschaft in Sarajevo ansässig und | |
Kenner der Lage in Bosnien. Was er damals mit Handke beredet hat, bleibt | |
zwar etwas nebulös. | |
Sicher ist, dass Handke an diesem Tag auch mit dem Sarajevoer Serben Jovan | |
Divjak zusammentraf, dem Vizekommandeur der bosnischen Armee, an vorderster | |
Stelle ein Verteidiger des multinationalen Sarajevos gegen die „Faschisten | |
da oben“, wie Divjak sich damals ausdrückte. Das Gespräch war nicht | |
freundschaftlich, denn Divjak zeigte ihm seine Faust, als Handke für die | |
Position Karadžić’ Sympathie erkennen ließ. | |
„Er hat sich noch Notizen gemacht“, sagt heute der bosnische Serbe Jovan | |
Divjak, eine Ikone der Zivilgesellschaft. Die Notizen hat Handke wohl nicht | |
verwendet, als er sein Buch „Gerechtigkeit für Serbien“ schrieb, das 1996 | |
erschienen ist. Dass er nach Sarajevo noch in Višegrad war und sich dort in | |
einer Badehose mit Alkohol und „Freunden“ an der Drina ablichten ließ, an | |
der Stelle, wo 1992 Hunderte von Menschen gefesselt und lebend von der | |
berühmten Brücke in die Fluten der Drina geworfen wurden, war ihm keine | |
Zeile wert. | |
Višegrad ist einer der vielen Orte blutiger Exzesse gegen Nichtserben. | |
Bakira Hasečić, die Vorsitzende einer Organisation von | |
Vergewaltigungsopfern, die zwei Jahre lang in dem berüchtigten | |
Vergewaltigungslager der Stadt festgehalten worden war, kann die Verleihung | |
des Literaturnobelpreises an Peter Handke ebenso wenig fassen wie die | |
Frauen von Srebrenica in ihren ersten Reaktionen. | |
Vielleicht hat Handkes Besuch in Višegrad den [3][bosnischen Schriftsteller | |
Saša Stanišić] insbesondere herausgefordert. Seine Familie stammt aus | |
dieser Stadt. Bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises 2019 im | |
Frankfurter Römer erklärte er am Montag: „Ich hatte das Glück, dem zu | |
entkommen, was Peter Handke in seinen Texten nicht beschreibt.“ Ähnlich | |
kritisch äußerten sich der in den USA lebende Schriftsteller Aleksandar | |
Hemon oder der serbische Schriftsteller Bora Ćosić, Teil der liberalen | |
Belgrader Szene, die das Milošević-System bekämpft haben und über die | |
Preisverleihung entsetzt sind. | |
Handkes Angriffe auf die damaligen Kriegsreporter, unter ihnen der | |
Amerikaner und Pulitzerpreisträger Roy Gutman und der Brite Ed Vulliamy, | |
die 1992 unter Lebensgefahr die Existenz von Konzentrationslagern in der | |
Stadt Prijedor nachgewiesen hatten, wirft ein Licht auf ihn selbst zurück. | |
Kriegsreporter waren für ihn „einseitig“ – obwohl sie auf allen Seiten | |
recherchiert haben, im Gegensatz zu ihm, obwohl er doch 1996 in Srebrenica | |
leicht hätte die Wahrheit entdecken können. „Ästhetik und Ethik lassen | |
sich nicht trennen“, sagt Darko Cvijetić, serbischer Schauspieler und | |
Dichter aus Prijedor. | |
17 Oct 2019 | |
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## AUTOREN | |
Erich Rathfelder | |
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