| # taz.de -- Kritik an Nobelpreis für Peter Handke: Kunst dient den Nackten | |
| > Der Schriftsteller Peter Handke bagatellisierte den Völkermord in Bosnien | |
| > – und bricht nun Gespräche ab, wenn er dazu befragt wird. | |
| Bild: Jahrelang verharmloste er den Völkermord in Bosnien – jetzt wird ihm d… | |
| Man muss im Leben völlig gescheitert sein, damit die [1][Ehrung durch den | |
| Nobelpreis] statt Bewunderung bloß endloses Befremden auslöst. Wer derart | |
| scheitert, weiß das auch: „Ich bin ein Schriftsteller, ich komme von | |
| Tolstoi, ich komme von Homer, ich komme von Cervantes. Lasst mich in | |
| Frieden und stellt mir nicht solche Fragen“, quengelte Handke am Dienstag, | |
| bevor er vor Journalisten floh; die Fragen nach seiner jahrelangen | |
| Bagatellisierung eines Völkermords hatten ihn überfordert. | |
| Seine zwei Sätze sind gleichermaßen Geständnis wie brutaler Nonsens: | |
| Handke kommt bestimmt nicht von Homer, den Heraklit, dieser Schutzheilige | |
| der Bellizisten, hasste, da er sich für die Menschheit Harmonie wünschte | |
| statt Kampf und Zwietracht. Von Tolstoi kann Handke auch nicht kommen, denn | |
| Tolstoi war ein Pazifist von solcher Strenge, dass er sich lieber hätte | |
| henken lassen als, wie Handke, Zeit mit Menschen zu verbringen, die unter | |
| Verdacht stehen, einen Völkermord organisiert zu haben, an seiner | |
| Durchführung unmittelbar beteiligt gewesen zu sein. Nein, Handke kommt | |
| nicht von Homer, Cervantes oder Tolstoi – sein Problem besteht eben genau | |
| darin, dass er nicht weiß, woher er kommt. | |
| [2][Fragte man Handke früher nach bosnischen Genozidopfern], giftete er, | |
| man solle sich die Betroffenheit in den Arsch stecken – heute rennt er vor | |
| derlei Fragen davon und jammert, er sei doch nur Schriftsteller. Stellt man | |
| das dem aggressiven Bescheidwissertum gegenüber, mit dem er sich einst an | |
| die Seite serbischer Nationalisten stellte und für ihre Sache vorsprach, | |
| könnte man glauben: Er ahnt, dass er damit falsch lag. Darum könnte die | |
| Aussage, er sei Schriftsteller, ebenso gut lauten: „Ich bin doch nur ein | |
| vorlauter Österreicher.“ Es ist die Ausflucht eines Kindes, das etwas | |
| angestellt hat und sich der Verantwortung zu entziehen versucht, indem es | |
| darüber klagt, den Erwartungen Erwachsener nicht standhalten zu können. | |
| Aus demselben Grund wird Handke den Nobelpreis selbstverständlich nicht | |
| ablehnen, obwohl er 2014 seine Abschaffung forderte. Handke vergleicht sich | |
| mit Tolstoi wie 14-Jährige vor einem Ronnie-Coleman-Poster posieren, doch | |
| Lautstärke und Rückgrat gehen nicht immer Hand in Hand: Er blökte, als man | |
| ihn ließ, und nun, wo er zum ersten Mal auf erbitterten Widerstand stößt, | |
| versteckt er sich. Zum Zeitpunkt des Erscheinens solcher Bücher wie | |
| „Winterliche Reise“ sah er sich nur mit höflichen Problematisierungen | |
| konfrontiert – heute ist es der Zorn bosnischer Diaspora. | |
| ## Seit wann rechtfertigt Unmündigkeit irgendetwas? | |
| Aus Bosnien stammende Autor*innen kritisieren die Entscheidung des | |
| Nobelpreiskomitees aus einer Vielzahl von Ländern, in einer ebensolchen | |
| Vielzahl von Sprachen: Faruk Šehić in der Muttersprache, Aleksandar Hemon | |
| auf Englisch, Alen Mešković auf Dänisch, Buchpreisträger Saša Stanišić u… | |
| ich auf Deutsch, um nur wenige zu nennen. | |
| Die bittersüße Ironie der Tatsache, dass genau dieses vom Krieg erschaffene | |
| globale Kulturleben Bosniens Handke in solche Bedrängnis bringt, ist ein | |
| geringer Trost. Recht offenkundig steht daneben die Erkenntnis, dass der | |
| Bosnienkrieg für Westeuropäer in Vergessenheit geraten ist – anders ist | |
| Handkes Nobelpreisgewinn jedenfalls nicht zu erklären. | |
| Eine häufige Bemerkung jener, die Handke weiterhin ohne schlechtes Gewissen | |
| lesen möchten, lautet: Sie verstünden ohnehin nicht, worum es bei diesen | |
| Kriegen auf dem Balkan gegangen sei, und könnten sich darum voll und ganz | |
| auf „die Sprachkunst“ konzentrieren. Es fällt mir schwer, diesen Menschen | |
| zu glauben. Gerade der Krieg in Bosnien war stets Teil deutscher | |
| Berichterstattung, und es ist kein Zufall, dass ein damaliges Anliegen | |
| Handkes die Diskreditierung genau dieser Berichterstattung war, rückte sie | |
| doch seiner Meinung nach Serben und Serbien in ein schlechtes Licht. | |
| Falls der Einwand aber wahr ist, falls man die neunziger Jahre wirklich | |
| unter einem Stein verbracht hat: Informiert euch doch. Seit wann | |
| rechtfertigt Unmündigkeit irgendetwas? | |
| ## Furcht, Wut, Hass, Paranoia hatten Macht über mich | |
| Eine weitere Ausflucht lautet, dass es sich bei Handke um einen | |
| ambivalenten Autor handle und dass jene, die ihn kritisieren, nicht | |
| kunstsinnig genug seien, diese Widersprüchlichkeit auszuhalten. Aber nichts | |
| könnte falscher sein. | |
| Handke unterstützte Kriegsverbrecher, deren Ziel die Vernichtung der | |
| Ambivalenz war: Einen multikulturellen Staat wie Bosnien ethnisch zu | |
| „säubern“ bedeutete, dass man nicht ausschließlich Mitglieder anderer | |
| Ethnien ermordete, sondern auch jene der eigenen, die in Mischehen lebten. | |
| Als der Krieg ausbrach, betraf dies in Bosnien übrigens etwa ein Drittel | |
| der Bevölkerung, ich gehörte dazu – und lernte mit tatsächlichen, | |
| unerträglichen Ambivalenzen zu leben. Etwa damit, dass meine Großmutter | |
| Serbin war und aus Belgrad, genau wie viele von denen, die die Berge um | |
| Sarajevo besetzt hielten und uns bombardierten. | |
| Immerhin Folgendes kann ich aber ohne Ambivalenz behaupten: Diese Zeit | |
| traumatisierte mich schwer. Etwa drei Jahre nach unserer Flucht, zwei Jahre | |
| nach Kriegsende hatte ich die sichtbarsten der Verhaltenszwänge abgelegt: | |
| Ich warf mich bei lauten Geräuschen nicht mehr zu Boden; ich konnte zur | |
| Schule laufen, ohne mich die ganze Zeit an Wände zu drücken; ohne Schwindel | |
| über Kreuzungen. Aber Gedanken an Gewalt konnten sich immer noch | |
| verselbstständigen; Furcht und ihre Kinder – Wut, Hass, Paranoia – hatten | |
| immer noch Macht über mich: Ich verließ den Unterricht, um eine halbe | |
| Stunde lang auf der Toilette Selbstgespräche zu führen; ich prügelte mich. | |
| Mein Gefühlsleben glich dem eines Reptils. | |
| Zu dieser Zeit hielt ich mich für den unglücklichsten Menschen in | |
| Deutschland – bis ich das Mädchen aus Srebrenica traf. Aus unserer | |
| Bekanntschaft wurde nie Freundschaft, das wäre gar nicht gegangen; aber sie | |
| erzählte mir dennoch, was man ihr, ihren Schwestern, ihrer Mutter angetan | |
| hatte – dass man den Vater gezwungen hatte, es mitanzusehen, bevor man ihn | |
| ermordete; man erschoss ihn nicht, man schlug ihn tot – dass man es den | |
| Mädchen und der Mutter gemeinsam in einem Raum antat – dass die Mutter zu | |
| diesem Zeitpunkt hochschwanger war, das Kind am selben Tag verlor. | |
| ## Authentische Schwärmerei | |
| Eine der Sachen, die das Mädchen sagte, war: „Ich sehe keinen Sinn darin zu | |
| leben. Leute wollen mir andauernd erklären, wieso es sich lohnt, aber ich | |
| kapier’s einfach nicht.“ „Sag doch so was nicht“, protestierte ich, | |
| allerdings schwach. „Doch, echt. Der einzige Grund, wieso ich mich nicht | |
| umbringe, ist, weil es meine Mutter traurig machen würde.“ Es waren keine | |
| unüberlegten Worte – und ich wusste nichts zu erwidern. Sie hatte es mir | |
| erzählt, weil ich auch diesen Krieg überlebt hatte, aber ich konnte ihr | |
| nicht helfen; ich war defekt; ich war zu nichts nutze. | |
| Das oft Gesagte gewinnt keine Literaturpreise, aber das darf keine Rolle | |
| spielen, wenn das oft Gesagte wahr ist: Wer überlebt, hasst sich dafür und | |
| fühlt sich deswegen zutiefst schuldig – regelrecht verdammt; wer überlebt, | |
| vereinsamt, denn wer überlebt, verliert jedwedes Vertrauen und hat es darum | |
| schwer, zu lieben oder Freunde zu finden. | |
| Ich glaube, dass Handkes Schwärmerei für jene, die uns all das angetan | |
| haben, authentisch war; er glaubte aufrichtig, dass es sich um anständige | |
| Menschen handle. Um ihre Verbrechen zu übersehen, musste er aber seine | |
| Seele in einen solchen Panzerschrank sperren, dass heute kaum noch etwas | |
| von dem Schriftsteller in ihm übrig ist: Er schreibt nicht ohne Grund über | |
| das Sammeln von Pilzen; er rennt nicht ohne Grund weg. Man kann nicht | |
| Künstler der Gepanzerten und Bewaffneten sein; Kunst gilt ausschließlich | |
| den Nackten. Darum bin ich Schriftsteller. Aber ich komme nicht von Homer, | |
| Cervantes oder Tolstoi. Ich komme aus Bosnien. | |
| 19 Oct 2019 | |
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| Tijan Sila | |
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