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# taz.de -- Peter Handke und seine Notizbücher: Auf der Suche nach innerem Jub…
> Das Notizbuch Peter Handkes von 1978 ist für Fans und Gegner
> aufschlussreich: Es probiert Schreib-Erlösung durch das Kultivieren von
> Raumempfindung.
Bild: Ein Notizbuch hält er stets griffbereit: Peter Handke
Das Führen von literarischen Notizbüchern ist eine eher seltene
Arbeitstechnik. „On keeping a notebook“ von der US-amerikanischen
[1][Autorin Joan Didion] ist die ausführlichste Meditation über diesen –
auf den zweiten Blick merkwürdigen – Umgang von Schriftstellerinnen mit
ihren Einfällen. Menschen, die solche Botanisiertrommeln für Ideen mit sich
herumschleppen, schreibt Didion, seien eine Spezies für sich: „einsam und
hartnäckig beschäftigt mit dem Neuarrangement der Weltgegenstände – Kinder,
die mit einer Vorahnung des Verlusts zur Welt gekommen sind“.
Intellektuelle Verlustangst regiert. Aber auch eine Art Zwang, in allen
Gegenständen, Vorkommnissen, Träumen und Gefühlslagen poetische Weiterungen
zu erkennen, scheint am Werk.
So auch bei Peter Handke. „Die Zeit und die Räume“, unter diesem Titel
präsentieren Ulrich von Bülow, Leiter der Archivabteilung im
Literaturarchiv Marbach, und Bernhard Fetz, Chef des Literaturarchivs der
Wiener Nationalbibliothek, im Suhrkamp-Verlag jetzt eine philologisch
präzise edierte – auch Faksimiles der Handzeichungen umfassende – Ausgabe
der Notizen Handkes während der Monate seiner Arbeit an dem Prosabuch
„Langsame Heimkehr“, das 1979 erschienen ist.
Viele der Beobachtungen, Gefühlsreflexionen, Traumsplitter in seinem
Notizbuch haben das Zeug, sich im Inneren der Leserin zu kleinen Romanen,
Filmszenen oder Kurzgeschichten auszuwachsen.
## Schlüsselbuch des Werks
Literarische Notizbücher sind eine fragmentarische, zum Selbstfertigmachen
auffordernde, und deshalb romantische Gattung. Es ist, als hätte Novalis
Handke gelesen, bevor er die Funktionsweise seiner „Blüthenstaub“-Fragmente
im „Athenäum“ beschrieb: „Fragmente dieser Art sind literarische Sämere…
Es mag freilich manches taube Körnchen darunter sein: indessen, wenn nur
einiges aufgeht!“
Die Erzählung „Langsame Heimkehr“ von 1979, auf die das nun öffentlich
lesbare Notizenkonvolut hinführt, ist ein Schlüsselbuch in Handkes
Werkgeschichte. Man könnte deren Gesamtbewegung vereinfachend beschreiben
mit dem Slogan „Von der Sprache zu den Dingen“, wobei „zu den Dingen“ a…
immer eine Tendenz Handkes zur Dingmystik bezeichnet hat.
Während sich das Frühwerk unter dem Einfluss Wittensteins und des
österreichischen Sprachavantgardismus mit den Grenzen des Sagbaren
beschäftigte, zielt Handke seit Beginn der achtziger Jahre auf eine neue –
auf eine unter den Bedingungen der Moderne gleichsam rekonstruierte –
Klassizität. Ab jetzt dominiert nicht mehr der Impuls der Avantgarde,
sondern der Einfluss Adalbert Stifters, die Zeitgenossenschaft mit Hermann
Lenz und vor allem das Vorbild Goethes.
Das Drehbuch zu [2][Wim Wenders Film „Falsche Bewegung“] von 1975 – eine
moderne Rekonstruktion von Goethes „Lehrjahren“ – wies den Weg zu der
Werkphase Handkes, die heute noch fortdauert.
## Säkularisierte religiöse Motive
Die frappanteste Entdeckung, die von Bülows und Bernhard Fetz' Edition
jetzt ermöglicht: Wie offen religiöse Motive als Motor der Handkeschen
„Kehre“ um 1980 hervortreten. Handke vollzog in den späten siebziger Jahren
offenbar eine ideelle Bewegung aus dem 18. Jahrhundert nach, die schon dem
Schreibimpuls Klopstocks, Goethes oder Hölderlins zugrunde gelegen hatte.
Es ist die literarische Säkularisierung religiöser Intentionen.
Sein Schreiben zielt seit der „Langsamen Heimkehr“ auf den „die deutsche
Literatur begründenden Enthusiasmus, eine aufgeklärte Welt mit aller
religiösen Energie, aber ohne religiöse Pflichten zu begreifen“. Diesen
Enthusiasmus hat [3][Heinz Schlaffer] in seinem einflussreichen Buch „Die
kurze Geschichte der deutschen Literatur“ als Grundintention der
klassischen deutschen Literaturperiode charakterisiert. Handke führt ihn in
die Moderne ein.
In denkbar zeitgenössischen Gegebenheiten – Methoden und Resultate der
geologischen Wissenschaft, New York, ein Transkontinentalflug nach Europa –
sieht er göttliche Anwesenheiten wirksam, real presences, wie ein Buch
George Steiners von 1986 heißt: Präsenzen jedoch, die kultisch folgen- und
verpflichtungslos bleiben.
Die ästhetisch säkularisierte Durchgottungsvermutung, zu der sich Handke um
1980 bekehrt, ist den Notizbüchern, die auf das Prosabuch hinführen,
womöglich noch deutlicher zu entnehmen als dessen Text selber. „Heil“
lautet das letzte Wort im ersten Satz der „Langsamen Heimkehr“. Und Wörter
oder Wendungen, die ihren ursprünglichen Sinn in den Traditionen der Mystik
und des Pietismus gehabt haben, durchziehen die Notate: „Wunder“;
„Beschwörung“; „anrufend“; „innerer Jubel“; „Heilige Liebe“; �…
„Himmel auf Erden“; „Urschuld“; „Aushauchen der Seele“; „Erhobenh…
„Sich an einen Gott herandenken“.
## Metaphysik der Räume
Generalthema von Prosabuch und Notatsammlung ist eine Metaphysik der Räume.
Der Naturraum und der Raum der Menschen bedeutet, richtig gesehen,
empfunden und beschrieben, eine Rettung. Sorger, die Erzählfigur der
„Langsamen Heimkehr“, misst, begrenzt und konstituiert – mittels der
geologischen Wissenschaft, die seine Profession, und des poetischen
Empfindens, das seine eigentliche Beschäftigung ist – Landschaftsräume,
„mit deren Hilfe er […], jedenfalls auf eine kleine Dauer, auch sich selber
zusammenfügte und unverwundbar machte“.
Das Kultivieren von Raumempfindung vollzieht sich als Schreibtherapie oder
Schreib-Erlösung. Es handelt sich um Exerzitien, die den Autor und seine
Figur vor dem psychischen Zerfall bewahren. Die eigenartig
selbstappellativen Maximen, Aufgaben, Apelle, Beobachtungen, Reflexionen
und „Anrufe“ im Notizbuch ähneln nicht nur den Erleuchtungstechniken der
Mystiker und den Innerlichkeitsübungen eines Ignatius von Loyola, sondern
unverkennbar auch denen der Gestalttherapie oder der
„Achtsamkeits“-Psychologie, die im Erscheinungsjahr der „Langsamen
Heimkehr“ längst zu einer Massenbewegung geworden war.
„Geschehen lassen können; nicht in den Geschehnissen sein, nicht die
Geschehnisse sein (der vorbeifahrende Zug, der Fluss in der Ebene), sondern
deren Topographie im eigenen Kopf bewahren, Ent-Dinglichung der
Wahrnehmung; die Dinge in sich hineindenken und sie dort ‚gewähren
lassen‘“; „Er wollte nur das reden, was er nicht schon vorausgedacht hatt…
was er zugleichdachte“; „Sei unversöhnlich!“
Die späteren Blätter des Notizbuchs enthalten Reiseeindrücke. Vor allem die
Notate aus dem damals noch nicht untergegangenen Jugoslawien sind eine
Probe auf die Selbsterlösung durch Raumempfinden, als deren Manifest man
die „Langsame Heimkehr“ lesen kann. Sie weisen voraus auf das Buch „Die
Wiederholung“ von 1986 – nicht zuletzt aber auch auf das überaus
fragwürdige publizistische Engagement Handkes während der Jugoslawienkriege
nach 1990.
## In die Politik verlaufen
Im Licht ihrer poetologischen Vorbereitung im Notizbuch wird diese Episode
in Handkes Werk begreiflicher. Diese Interventionen, Skandale, Grabreden
und Feuilletonartikel standen in engem Zusammenhang mit seiner
literarischen Metaphysik. Jugoslawien ist für Handke kein politischer,
sondern ein säkularisiert sakraler Raum gewesen, ein mütterliches Land der
Selbstzusammenfügung und Unverwundbarkeit.
Seine antiwestliche Jugoslawien-Wut wird erkennbar als spin-off einer
psychisch-literarischen Ganzheitssehnsucht, die sich in den Diskursraum der
Politik nur verlaufen hat und dort dann nicht mehr weiter wusste.
So ist die Edition Ulrich von Bülows und Bernhard Fetz' nicht nur im
literaturwissenschaftlichen, sondern auch in einem politischen Sinn
bedenkenswert. Sie erlaubt einen Blick in den Weltinnenraum eines jüngst
achtzig gewordenen Schriftstellers, den man in seinen großartigen wie
seinen fragwürdigen Seiten als einen der bedeutendsten der Gegenwart
begreifen muss.
7 Jan 2023
## LINKS
[1] /Nachruf-auf-Joan-Didion/!5824281
[2] /Wim-Wenders-Werkschau-im-Netz/!5703459
[3] /Heinz-Schafflers-Geisterlyrik/!5096885
## AUTOREN
Stephan Wackwitz
## TAGS
Literatur
Religion
Peter Handke
Schriftsteller
Jugoslawien-Krieg
Literatur
Roman
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