# taz.de -- Heinz Schafflers Geisterlyrik: Kommunikation mit höheren Mächten | |
> In der Poesie spricht der moderne Mensch noch mit Dämonen: In | |
> „Geistersprache“ befasst sich Heinz Schlaffer mit dem Nachleben | |
> verblasster Glaubensvorstellungen. | |
Bild: Die gloriose und dubiose Vergangenheit der lyrischen Sprache. | |
Überblickt man die glanzvolle Reihe viel gelesener und oft zitierter | |
Monografien, die der Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer seit den | |
frühen siebziger Jahren vorgelegt hat, fällt an ihnen ein Grundmotiv ins | |
Auge, das seine Verwandtschaft mit den kunsthistorischen Einsichten der | |
Warburg-Schule nicht verleugnen kann. Es ist Schlaffers faszinierte | |
Beschäftigung mit dem Nachleben. | |
Mit diesem Begriff hatte Aby Warburg eine Gespenstergeschichte der | |
kulturellen Tradition bezeichnet. Die überlebten Bilderwelten, | |
Glaubensbestände und Mentalitäten mochten in der modernen Welt | |
wissenschaftlich, rituell und lebenspraktisch außer Kraft gesetzt sein. | |
Aber das ungültig gewordene Wissen und der verblasste Glaube, so Warburg, | |
lebten im wissenschaftlichen, demokratischen und bürgerlichen Zeitalter | |
weiter als Poesie, als Wahn, als Pathosformel, als bewegtes Beiwerk, als | |
soziologische Sonderexistenz (die des Philologen zum Beispiel). | |
„Nachleben ist ein Leben nach dem Leben“, schreibt Schlaffer, „wie es | |
Gespenstern beschert ist.“ Das Vergangene ist nicht tot. Es ist nicht | |
einmal vergangen. In der kulturellen Tradition spuken die abgeschafften | |
Götter als Geister. | |
Schon Schlaffers erster Bucherfolg beschäftigte sich mit einer Form des | |
Nachlebens, der des Heldischen in der unheroischen Moderne. Wenn es dem | |
Bürger ernst wird, in der Revolution, stilisiert er sich zu einer | |
gesellschaftlich längst nicht mehr benötigten Figur. Er wird zum Helden und | |
ficht seine menschheitsbeglückenden Selbsttäuschungen im antiken Kostüm des | |
heroischen Weltzustands aus. | |
Don Quijote ist der erste Bürger als Held. Schlaffers Buch über Goethes | |
Faust II beschäftigte sich mit der Wiederkehr der Allegorie, einer im 19. | |
Jahrhundert schon vergessenen Denk- und Bildform des Barock, die bei Goethe | |
und Marx, wie er nachwies, überraschend als Kritik des Kapitalismus wieder | |
auftaucht. | |
## Emanzipation von der Orthodoxie | |
„Poesie und Wissen“, das dritte große Buch Schlaffers (und das erste, das | |
nicht mehr für ein akademisches, sondern für ein gebildetes | |
Allgemeinpublikum geschrieben war), führt den skizzierten Zusammenhang | |
bereits im Titel. Und Schlaffers großer Verkaufsschlager und Wutauslöser | |
von 2002, „Die kurze Geschichte der Deutschen Literatur“, legte überzeugend | |
dar, dass literarische Größe in der Auseinandersetzung mit noch nicht ganz | |
überwundenen, immer noch gefährlichen und zur psychischen Überwältigung | |
fähigen Traditionen entsteht. | |
Eine solche Konstellation hat es in der deutschen Literaturgeschichte | |
zweimal gegeben. Erstens in der Goethezeit und deren theoretischer und | |
literarischer Auseinandersetzung mit den psychischen Abgründen des | |
Pietismus. Und zweitens zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als modern gesinnte | |
jüdische Intellektuelle und Schriftsteller im Habsburgerreich sich von der | |
Orthodoxie und der Lebenswelt ihrer Vorfahren emanzipierten. Deshalb stehen | |
die Namen Goethes und Kafkas für die einzigen Perioden weltgeschichtlicher | |
Geltung der deutschen Literatur. | |
Auch Schlaffers neues Buch, „Geistersprache“, zeichnet das Nachleben | |
verblasster Glaubensvorstellungen in einer vertrauten Kunstpraxis nach. Die | |
traditionellen Formen der Lyrik – Anrufung, Namensnennung, Gemeinschaft, | |
Enthusiasmus, Kürze, rhetorischer Aufwand – erweisen sich unter dem Aspekt | |
des Nachlebens als nur vordergründig künstlerische. An ihrem Ursprung (den | |
sie noch bewahren) waren sie religiöse Mittel zu einem (inzwischen | |
vergessenen) kultischen Zweck. Sie sind, wie das Genre überhaupt, erst zu | |
verstehen, wenn man in Rechnung stellt, wozu es gesellschaftlich einmal | |
gedient hat. | |
## Kommunikation mit höheren Mächten | |
Lyrik war – und ist es in einem gespenstisch untergründigen Sinn heute noch | |
– Kommunikation mit höheren Mächten. Wie in der Weltsicht des Schamanen, | |
deren modernes Nachleben die Lyrik darstellt, gewinnen zum Beispiel | |
Gegenstände im lyrischen Sprechen ein „poetisches“ (in Wirklichkeit | |
dämonisches) Eigenleben: „Der Begriff ’Personifikation‘, der die | |
Ausstattung eines nicht-menschlichen Phänomens mit menschlichen Zügen | |
bezeichnet, verharmlost diesen Vorgang. | |
Treffender wäre der Begriff ’Dämonisierung‘, denn es bilden sich bei dies… | |
Transsubstantiation unheimliche Zwitterwesen, halb Materie, halb Geist, | |
halb tot, halb lebendig. | |
Durch Anrufung wie durch metaphorische Umbenennung entstehen so | |
gespenstische Figuren aus einer anderen Welt. Goethes ’Willkomm und | |
Abschied‘ überträgt menschliche Handlungsweisen auf kosmische | |
Erscheinungen: ’Der Abend wiegte schon die Erde / Und an den Bergen hing | |
die Nacht‘. Die vertrauten Erfahrungen Abend, Erde, Berge, Nacht mutieren | |
zu Dämonen und verwirren in ihrer verwandelten Gestalt die natürlichen | |
Proportionen.“ | |
## Die unheimliche Dimension | |
Die unheimliche Dimension dieser Verwandlung wird durch ihre ästhetische | |
Form zwar beruhigend kaschiert, aber nicht vollständig verdeckt. Aus der | |
Spannung zwischen archaischer Erregung und moderner Verharmlosung geht die | |
spezifische Faszination der Gattung hervor. | |
„Die lyrische Sprache“, schreibt Schlaffer, „hat eine gloriose und zuglei… | |
dubiose Vergangenheit.“ Metaphern als der Name der Dinge in der | |
Göttersprache. Der majestätische Wortschmuck feierlich-lyrischer Rede als | |
Erinnerung an die umständlichen Zeremonien und zwanghaften Zurüstungen des | |
Kults. Der Rhythmus als vergessener Tanzschritt. | |
Das Metrum als ursprüngliche Methode, Dämonen durch Wiederholung zu bannen | |
und durch akustische Regelmäßigkeit zu zähmen, damit sie menschlichen | |
Zwecken gehorchen. Die schamanistisch-ästhetisch-erotische | |
Dreifachbedeutung des Worts „Zauber“ und seine Rolle in Romantik, | |
Symbolismus und kunstreligiösem Okkultismus. Das Fortleben archaischer | |
Magie in modernen lyrisch-musikalischen Gemeinschaftserlebnissen wie der | |
Popmusik. | |
Der literarische Liebeszauber, den Schlaffer in einer anmutigen Reprise | |
seiner Habilitationsschrift über die „musa iocosa“ beschreibt. Der Dichter | |
als Schamane. Seine Begabung als göttlicher Wahnsinn. Die virtuelle | |
Gemeinschaft des lyrischen Ich und ihre religiösen Wurzeln. Die kultische | |
Synchronie im gemeinsamen Erlebnis des Singens und Tanzens. Die Ablehnung | |
aller Zwecke und die dadurch bedingte Auflösung der Mittel in der autonomen | |
Lyrik des 20. Jahrhunderts. | |
Man kann nicht behaupten, dass diese Tatbestände der Literaturwissenschaft, | |
der Ethnologie oder der philosophischen Anthropologie bisher unbekannt | |
gewesen wären. Man hat sie aber noch nie in dieser dringlich pointierten | |
Zusammenstellung ernst genommen. Selten hat ein radikaler Atheist so | |
ernsthaft und geistreich über die Götter nachgedacht wie Heinz Schlaffer. | |
Auch hat man all das wohl noch nie so gut formuliert gelesen. Das Stilideal | |
durchsichtiger Klassizität, das Schlaffer während seiner gesamten Karriere | |
angestrebt hat, erreicht in der „Geistersprache“ einen hohen Grad der | |
Perfektion. | |
## Eine schamatische Geistreise bis hin zur autonomen Moderne | |
So voll Schlaffers Monografie mit interessantem und akademisch verbürgtem | |
Wissen ist, verzichtet sie doch auf den akademischen Anmerkungsapparat. | |
Dafür verwirklicht die Durchdachtheit jeder Formulierung eine Einfachheit | |
noch des Schwierigen, die auch dieses Buch Schlaffers vermutlich zu einem | |
Bestseller machen wird. Man kann es an einem Nachmittag durchlesen; aber es | |
wird dann gleich zu denen gehören, die man immer wieder lesen will. Es gibt | |
in der deutschen Literatur wenige Beispiele einer so gelungenen Wendung | |
eines Gelehrten an das allgemeine Publikum wie Schlaffers Bücher. | |
Bedenkenswert an seinem neuen ist, dass der Leser der „Geistersprache“ die | |
Geschichte der Lyrik von der schamanistischen Geistreise bis zum zwecklosen | |
Spiel der autonomen Moderne in einer bestimmten literaturhistorischen | |
Situation nachvollzieht. Auch wenn Schlaffers Buch offensichtlich keinen | |
strategischen Zweck verfolgt, im konkreten bildungssoziologischen | |
Zusammenhang liest es sich als literaturstrategische Lagebeschreibung. | |
Schlaffer selbst hat die kunstsoziologische Lage, auf die alle seine | |
späteren Arbeiten in der einen oder anderen Weise reagieren, 2002 in einem | |
Aufsatz über den „Roman als das letzte Stadium der Literatur“ | |
charakterisiert. Er zeigte dort, dass mit dem Roman, einer einst | |
verachteten und heute konkurrenzlos repräsentativen Gattung im | |
literarischen Ensemble, die literarische Tradition ihre ursprünglichen | |
Zwecke und Mittel überlebt hat und zu einer Vorstufe (oder Ressource) des | |
Films geworden ist. Was immer der zeitgenössische Roman will, der Film kann | |
es schon besser. „An dieser Überbietung des Romans erhellt sich seine | |
geschichtliche Übergangsstellung: Er hat das Publikum daran gewöhnt, ebenso | |
gut auch ohne Dichtung auszukommen.“ | |
Die Geschichte dieses Bruchs der Literatur mit ihrer Vergangenheit, der sie | |
unter unseren Augen vielleicht zu etwas vollkommen Anderem und dem Kenner | |
der Tradition nicht mehr Kenntlichen macht – eine Geschichte vom Ende der | |
Literatur und ihrem Fortgang –, erzählt Schlaffers „Geistersprache“. Es … | |
ein brillantes, aber am Ende auch ein melancholisches Buch. | |
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Heinz Schlaffer: „Geistersprache“. Hanser Verlag, München 2012, 208 Seiten, | |
18,90 Euro | |
4 Apr 2012 | |
## AUTOREN | |
Stephan Wackwitz | |
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