| # taz.de -- Neuer Roman von Ian McEwan: Die Klaviatur der Gefühle | |
| > Ian McEwan erzählt in „Lektionen“ vom Alltag und sexuellen Versuchungen. | |
| > Dabei entwirft er ein großes europäisches Zeit- und Weltpanorama. | |
| Bild: 88 Tasten und zwei Hände, die diese bespielen: Stoff für Weltliteratur … | |
| Roland Baines, der „Held“ des grandiosen neuen Romans von Ian McEwan, ist | |
| ein „Jedermann“. Der Figurentyp stammt aus dem englischen mystery play und | |
| ist durch das europäische Mönchsordenstheater ans 20. Jahrhundert | |
| überliefert worden, wo Hugo von Hofmannsthal diese frühneuzeitliche | |
| Erbschaft zu einem der größten Erfolgsstücke der Dramenliteratur bis heute | |
| umgearbeitet hat. | |
| Die Intention der Jedermann-Figur ist seit ihren Ursprüngen allegorisch, | |
| also lehrhaft. „Lektionen“ ist deshalb auch der Titel von McEwans Roman. | |
| Wir sollen aus einem Lebenslauf etwas lernen. | |
| Weswegen der geschilderte Mensch auch nicht ein besonders bedeutendes oder | |
| schreckensreiches Individuum sein darf, kein eindrücklicher Held, keine | |
| große Schurkin. Sondern einer oder eine wie du und ich. Das Rezeptionsziel | |
| heißt Identifikation. Wir alle, das ist die Botschaft McEwans, sind Roland | |
| Baines. | |
| ## Everyman-Literatur | |
| Im Mysterientheater oder bei Hofmannsthal steht Jedermann (und wir mit ihm) | |
| in der Mitte zwischen religiös konnotierten Polen: Versuchung durch Welt, | |
| Macht, Sex und Geld auf der einen Seite, der enge Pfad zum ewigen Heil auf | |
| der anderen. Es ist klar, welche Richtung uns in der traditionellen | |
| Everyman-Literatur nahegelegt wird. | |
| In McEwans säkularisiertem mystery play sind die Versuchungen verfehlten | |
| Lebens weiblich besetzt. Der junge Roland Baines, den seine Eltern – ein | |
| britischer Berufssoldat auf Posten in Libyen und seine sanfte, unglückliche | |
| Ehefrau – in einem britischen Internat sozusagen abgestellt haben, fällt | |
| dort, 16-jährig, einer Klavierlehrerin zum Opfer, die von dem sehr jungen | |
| Mann erotisch besessen ist. | |
| Sie kolonisiert seine sexuellen Fantasien, verführt ihn, ruiniert seine | |
| Schulkarriere und verfolgt den haarsträubenden Plan, ihn in Schottland zu | |
| heiraten und ihn einerseits als Sexualpartner, andererseits als ihren | |
| begabtesten Schüler (eine professionelle Laufbahn als Pianist stand ihm | |
| eine Weile lang offen) für immer bei sich zu behalten. | |
| ## Reisen, Drogen und Affären | |
| Sie verheißt ihm Sex und Ruhm. Aber er würde die Freiheit verlieren, ihre | |
| Fröste und ihre Möglichkeiten für Triumph und Desaster zugleich. Der Junge | |
| flüchtet, schmeißt die Schulausbildung und führt – auf langen Reisen, auf | |
| Drogentrips, mit Affären – das Hippieleben, das 20-Jährigen in den | |
| sechziger Jahren offenstand, ihnen aber zwischen 30 und 40 als Sackgasse | |
| bewusst werden konnte, in der viele von ihnen zugrunde gegangen sind. | |
| Der Missbrauch hat Spätfolgen: Roland kann Beziehungen nicht fest- und | |
| aufrechterhalten. Er lernt in London Alissa kennen, eine | |
| Deutschengländerin, deren Vater mit der Widerstandsgruppe der Weißen Rose | |
| in entfernterer Beziehung stand. | |
| Hier beginn der „deutsche“ Strang des Romans, dessen mäandernder | |
| Erzählfluss durch das letzte Jahrhundert – und bis in unseres hinein – auch | |
| die untergegangene DDR umfließt, wo Roland vor 1989 Freunde hat, außerdem | |
| den Mauerfall, die Regierungszeiten Margaret Thatchers und Angela Merkels | |
| bis zum Brexit und den Lockdowns der frühen zwanziger Jahre: ein | |
| europäisches Zeit- und Weltpanorama. | |
| ## Bedeutendste Schriftstellerin ihrer Zeit | |
| Alissa jedoch fällt ihrerseits einer Verlockung zum Opfer. Es ist diejenige | |
| des künstlerischen Ruhms, die Roland durch den sexuellen Missbrauch | |
| verunmöglicht worden war. Sie verlässt nach der Geburt des gemeinsamen | |
| Sohnes die kleine Familie und wird die bedeutendste deutschsprachige | |
| Schriftstellerin ihrer Zeit. | |
| Roland sieht sie noch einmal am Tag des Mauerfalls kurz vor der | |
| Veröffentlichung ihres Debütromans, der sofort ein Welterfolg wird, und ein | |
| definitives Buch der deutschen Literaturgeschichte. Und ein zweites Mal: Er | |
| besucht die vereinsamte alte Frau, die in einem Allerweltsort bei München | |
| auf den Krebstod wartet. | |
| Sie hat ihrer Kunst das Opfer des Lebensglücks gebracht. Der | |
| Zurückgelassene aber erzieht das Kind in einem heruntergekommenen | |
| Reihenhaus in Südlondon, verdient sein Geld als Barpianist und findet ein | |
| spätes Ehe- und Familienglück mit Daphne, die er heiratet, bevor sie an | |
| Krebs stirbt. | |
| ## Lieblingsenkelin Stefanie | |
| Sein Alter verbringt er inmitten der Bücher, am Klavier, zwischen Besuchen | |
| von Familie und Freunden und in der Erinnerung an ein früh zerbrochenes, | |
| aber leidlich wieder zusammengesetztes Leben. Die letzte Szene des Romans | |
| zeigt den alten Mann im Kreis seiner großen Familie mit seiner | |
| Lieblingsenkelin Stefanie. | |
| Im Gespräch mit dem Kind gibt er sich der Fantasie hin, das 21. Jahrhundert | |
| sei ein Buch, das er nicht mehr lesen wird, aber zu gern wüsste, wie es | |
| ausgeht. Ich werde es lesen, sagt Stefanie. Dann sage ich dir, ob es ein | |
| gutes Ende genommen hat. Und sie führt den ein bisschen unsicher gehenden | |
| alten Mann an der Hand ins Esszimmer hinüber, denn ihre Mutter hat zum | |
| Abendessen gerufen. | |
| Ian McEwans Buch kann einen über Monate begleiten. Die fein ausziselierten | |
| Zentralgestalten im Kreis tolstoihaft zahlreicher Nebenfiguren, die | |
| überzeugende soziologische Feinmalerei britischer und deutscher Geschichte, | |
| kriminalistische, politische und geistesgeschichtliche Nebenhandlungen: | |
| „Lektionen“ ist ein Beweis dafür, dass [1][das Große Erzählen] in der | |
| Tradition des 19. Jahrhunderts auch im 21. möglich ist und plausibel sein | |
| kann. | |
| Es ist schwer, während der Lektüre nicht an die Literaturkritik-Diskussion | |
| zu denken, die [2][Moritz Baßlers] Buch über den „Populären Realismus“ | |
| ausgelöst hat. Legt man das mit diesem Begriff gemeinte Konzept neben | |
| McEwans Roman, wird sein Werk erkennbar als ein spektakulär gelungenes | |
| Exemplar der von Baßler definierten Literaturrichtung. | |
| McEwan vermeidet das Leser-Autorinnen-Einverständnis, dessen vorschnelle | |
| Herstellung diese Art von Bücher allzu oft in die Banalität führt. Sein | |
| Erzählen bleibt offen, beeindruckbar durch alles, was es berührt, in | |
| dichtem Kontakt mit der Wirklichkeit: realistisch. Nirgends wird | |
| moralisiert – auch nicht in der wirklich abgründigen Schilderung der | |
| Verführung des Minderjährigen, bei der Beschreibung einer Straftat also. | |
| Empörung, für die besonders bei der Schilderung der beiden weiblichen | |
| Hauptfiguren viel Anlass besteht, wird konsequent unterlaufen durch die | |
| feinkörnige, an [3][Nabokov] oder Thomas Mann erinnernde Auflösung auch der | |
| fragwürdigen und sogar der bösen Motive. Auch die Teufelinnen in diesem | |
| mystery play sind, wenn wir genau genug hinschauen, wie wir – Jedermann und | |
| Jedefrau. | |
| McEwans Roman ist etwas, woran man schon gar nicht mehr glauben mochte: in | |
| einem emphatisch traditionellen Sinn große Literatur. | |
| 14 Dec 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Stephan Wackwitz | |
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