# taz.de -- Neues Album von St. Vincent: Outlaw im Blut | |
> „Daddy’s Home“ heißt das neue Album der US-Künstlerin St. Vincent. S… | |
> nimmt Familiengeschichten zum Anlass für einen geschichtsträchtigen | |
> Popsound. | |
Bild: St. Vincent, hingegossen | |
„Daddy’s Home“ – knapp zehn Jahre war der Vater von Annie E. Clark aus | |
ihrem Alltag verschwunden, jetzt ist er zurück. [1][Wenn St Vincent, wie | |
sie sich als Künstlerin nennt], ihn zwischen 2010 und 2019 besuchen wollte, | |
musste die New Yorkerin in das texanische Gefängnis reisen, in dem er zur | |
Strafe wegen Beteiligung an Aktienmanipulationen einsaß. | |
Vor dem Besuch musste sich Clark im lokalen Walmart ein Schlabber-Outfit | |
besorgen: Offenbar gibt es strenge Regeln, wie eine Frau im Besuchsraum zu | |
erscheinen hat. Bücher, die sie ihrem Vater mitbrachte, Romane von Ian | |
McEwan, Rachel Cusk und die Schriften von Malcolm X wurden von der | |
Gefängnisleitung durch Bibeln in verschiedenen Ausgaben ersetzt. Dafür | |
ließen seine Mitinsassen dem Vater Zeitungsausschnitte über die Popkarriere | |
seiner Tochter zukommen, die in den Jahren an Fahrt aufnahm. | |
Solche Details erfährt nur am Rande, wer St. Vincents neues Album hört. | |
Mehr Aufschluss gibt ein Comic, den es in einigen US-Plattenläden als | |
Giveaway zu „Daddy’s Home“ gab. Die Geschichte ihres Vaters liefert für | |
die Songs der 38-jährigen Künstlerin allenfalls einen losen Bezugsrahmen. | |
Zu viel Bekenntnishaftigkeit wäre auch verwunderlich bei St. Vincent. Für | |
jedes ihrer fünf vorherigen Alben hatte sie sich eine andere Persona | |
zugelegt. Und einen neuen Sound. | |
## Daddys Plattensammlung | |
Auf dem aktuellen ist ihr Vater nicht zuletzt durch seine Plattensammlung | |
präsent: „Daddy’s Home“ ist von den frühen Siebzigern inspiriert. Als | |
Hippie-Idealismus schon passé war, Disco-Glamour aber noch nicht richtig | |
da. „Eine Ära, die unserer Gegenwart recht ähnlich ist“, erklärt Clark: | |
Eine „grimy, sleazy, trying-to-figure-out-where-we-go-from-here period“, | |
wie sie es in der US-Ausgabe des Musikmagazins Rolling Stone auf den Punkt | |
bringt. | |
In ihren neuen Songs findet auf stimmige Weise zusammen, was seinerzeit | |
nicht unbedingt zusammengehörte: Anleihen an Steely Dan, die elegante | |
Präzision mit Groove garnierten, ist so präsent wie ein überbordender und | |
doch kühler „Young Americans“-Vibe von David Bowies „Plastic Soul“-Pha… | |
Tänzelnde Synthies wie von Stevie Wonders epischem Protest-Soul-Album | |
„Innervisions“ (1973) stehen neben spaciger Psychedelik à la Pink Floyd. | |
Bei vielen Songs geht dieser eklektizistische Ansatz auf: „Pay Your Way in | |
Pain“, die funky und sich zugleich lässig dahinschleppende Hommage an | |
Prince sticht ebenso positiv heraus wie die Progrock-Soul-Fusion „Melting | |
Sun“ und das abgehangene „The Laughing Man“. Die Texte bleiben abstrakt, | |
wie im Titelsong, in dem Clark reflektiert, ob Erfahrungen aufrechenbar | |
sind: „Yeah you did some time / Well I did some time too“. Oder was | |
innerhalb von Familien weitergegeben wird: „Hell, where can you run / when | |
the outlaw’s inside you“. | |
Der reduzierte Popsong „My Baby Wants a Baby“ handelt von einem anderen | |
Generationendilemma: von ihrer Angst, durchs Mutterwerden in eine Falle zu | |
geraten. Um sich dann später vom eigenen Kind anzuhören: „I got your eyes | |
and your mistakes“. Angelehnt ist die Melodie an Sheena Eastons Hit „9 to | |
5“ (1980). In dem wartet eine Frau erstaunlich gut gelaunt schon morgens | |
darauf, dass ihr Mann abends nach Hause kommt. | |
## Die früheren Generationen | |
Es gibt dennoch etwas zu lernen von früheren Generationen. Im | |
schummerig-entrückten „Melting Sun“ huldigt Clark ihren Vorbildern: Joni | |
Mitchell, [2][Nina Simon] und [3][Tori Amos]. Letztere thematisierte lange | |
vor #MeToo in „Me and a Gun“ (1991) eine erlittene Vergewaltigung, Clark | |
bilanziert: „Brave Tori told her story / Police said they couldn’t catch | |
the man“. Und zählt weiter auf: „Proud Nina got subpoenaed singing | |
‚Mississippi good goddamn‘.“ | |
„Daddy’s Home“ wirkt beim ersten Hören bisweilen etwas zu glatt poliert. | |
Koproduziert wurde es übrigens von Jack Antonoff, der nicht nur an Clarks | |
Vorgänger „Masseducation“ (2017) mitgewirkt hatte, sondern auch bei Taylor | |
Swift, Lorde und den letzten beiden Lana-Del-Rey-Alben. | |
Die kühle Glätte erweist sich nach einigen Hördurchgängen dennoch als | |
produktiver Ansatz. Sie sorgt dafür, dass „Daddy’s Home“ mehr als | |
kuscheliger Vintage-Zitatpop ist. Der Schmutz bleibt zwar eher Behauptung; | |
längst wirken die Songs nicht so „sleazy“ wie von Clark offenbar | |
intendiert. Eher fungiert das Glatte wie Sand im Getriebe: eine Irritation, | |
die hin und wieder straucheln lässt. Dass man es sich in einer | |
Nostalgie-Blase, als die die frühen Siebziger bei allen damaligen | |
Verwerfungen von heute aus betrachtet durchaus taugen, gemütlich machen | |
soll – dafür ist St. Vincent auch viel zu doppelbödig. | |
20 May 2021 | |
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## AUTOREN | |
Stephanie Grimm | |
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