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# taz.de -- Notizbücher von Wilhelm Genazino: Blicke, Schnipsel, Schreiben
> Vom großen Glück, das banale Details gewähren – und ihrem Schrecken. Aus
> dem Nachlass erscheint eine Auswahl des Werktagebuchs von Wilhelm
> Genazino.
Bild: Wilhelm Genazino, hier 2015 im seinem Frankfurter Arbeitszimmer, schrieb …
Als ich Wilhelm Genazino 2004 in seiner Frankfurter Arbeitswohnung
besuchte, war aus dem langjährigen Geheimtipp gerade ein
Erfolgsschriftsteller geworden. Sein Hausverlag Rowohlt hatte ihn ein paar
Jahre zuvor mitgeteilt, fürderhin auf seine Dienste verzichten zu wollen,
was er immer noch als tiefe Kränkung empfand.
Der Verleger Michael Krüger und der [1][Lektor Wolfgang Matz] boten ihm bei
Hanser eine neue Verlagsheimat, und als ob es tatsächlich so etwas wie
poetische Gerechtigkeit gäbe, wurden gleich die nächsten beiden,
tatsächlich aber auch sehr viel eingängiger erzählten Romane „Ein
Regenschirm für diesen Tag“ und „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“ zu
großen Publikumserfolgen.
Genazino beargwöhnte seinen neuen Status. Auch der ihm damals gerade
angetragene Georg-Büchner-Preis freute ihn sichtlich, Sicherheit gab er ihm
nicht. „Man wird misstrauisch, wenn man die meiste Zeit seines Lebens ein
eher wenig beachteter Autor war. Was soll man von einer literarischen
Gesellschaft halten, die bis zum 60. Lebensjahr eines Autors sagt, na ja,
auch so ein Schriftsteller, und jetzt plötzlich kommen die Kübel mit weißer
Schokolade?“
Diese Skepsis gegenüber seiner Profession hatte da schon lange Niederschlag
in seiner Arbeitsweise gefunden. Bereits in den Siebzigern entwickelte er
eine eigene Form der literarischen Buchführung.
Er sammelt systematisch Kleinstbeobachtungen, „Wahrnehmungen aus dem
Minimalbereich“, die er „mit einer fortlaufenden Code-Nummer“ versieht, um
sie wiederzufinden, und in Ordnern archiviert. Eine Art Zettelkastensystem
also, das an Arno Schmidts Methode erinnert und das vermutlich eine
ähnliche psychologische Ursache hat. Die Angst vor dem weißen Blatt.
## Literarisches Spielmaterial
Es geht Genazino darum, literarisches Spielmaterial zu generieren, und zwar
möglichst in Hülle und Fülle. Ob einzelne Wahrnehmungsschnipsel letztlich
Verwendung finden oder nicht, ist sekundär. „Ihre Aufgabe ist es zunächst
mal, mich von meiner inneren Überzeugung der Bedürftigkeit zu befreien.
Sehen Sie, man sitzt da, man weiß nichts, man behauptet, man sei ein
Schriftsteller – wenn ich jetzt nicht mein Material hätte, würde ich ganz
schön auf dem Trocknen sitzen. Und dagegen ist das im Grunde eine
Verwahrungsaufgabe, die dieses Material wahrzunehmen hat. Dass man seinen
De-facto-Zustand, nämlich die Voraussetzungslosigkeit, aushalten kann. Das
ist fürchterlich, und dagegen muss man ja was tun.“
Ich habe mich damals nicht zu fragen getraut, ob ich einen Blick in diese
Ordner werfen dürfe. Vielleicht habe ich auch gar nicht daran gedacht. Ich
gab mich wohl zufrieden mit der Auswahl seiner Illuminationen des
Alltäglichen, die ins gedruckte Werk Eingang fanden.
Die waren ohnehin die Hauptsache. In Genazinos besten Romanen spielt ein
Plot im Grunde keine große Rolle, und ein Thema gleich gar nicht. Es geht
hier im Kern stets um die Poesie selber, den ästhetischen Moment, den er
heraufbeschwört mit einem „gedehnten Blick“. Der soll die ursprüngliche
Betrachtungsweise des Kindes wiederherstellen, die vorsprachliche
Unmittelbarkeit des Schauens, die noch das Schöne, Schreckliche,
Angsteinflößende, Glücklichmachende im gänzlich banalen Detail erkennt.
## Knapp 7.000 Seiten
Genazino hat seinen Vorlass 2012 dem Marbacher Literaturarchiv übergeben,
nach seinem Tod 2018 gingen die übrigen Papiere dorthin. Der Kern dieses
Schriftstellernachlasses sind jene insgesamt 38 Ordner mit knapp 7.000
Seiten Aufzeichnungen, das von ihm so genannte „Werktagebuch“ der Jahre
1972 bis 2018. Zum 80. Geburtstag des Autors haben die beiden Germanisten
und Genazino-Kenner Jan Bürger und Friedhelm Marx jetzt eine Auswahl
zusammengestellt.
Wenn man „Der Traum des Beobachters“ zum Maßstab nimmt, ist das wohl nicht
Genazinos geheimes Hauptwerk – vergleichbar etwa Lichtenbergs
„Sudelbüchern“ –, mehr als eine „Prothese des Schreibens“, wie er se…
seine Aufzeichnungen lapidar bezeichnet hat, sind sie aber allemal.
Viele Notizen lassen sich den jeweils aktuellen Publikationskontexten
subsumieren, die Herausgeber erleichtern eine solche Zuordnung, indem sie
für jedes neue Jahr mit ein paar Sätzen die anstehenden Schreibprojekte
skizzieren, also Essays, Romane und bis in die 90er Jahre hinein auch
diverse Hörspiele, später auch Theaterstücke. Aber gerade in ihrer
aphoristischen Vereinzelung entwickeln viele dieser Notate eine eigene
Strahlkraft.
„Auf einem Rummelplatz habe ich einen jungen Mann gesehen, der einen
eingewickelten Säugling in den Armen trug“, beobachtet er 1974. „Der Mann
kam an einem Schießstand vorbei, und er wollte schießen. Er legte das Baby
auf dem Stütztresen (?) ab und griff sich ein Gewehr. Er schoß sechsmal.
Jedesmal, wenn ein Schuß losging, schlug das unmittelbar danebenliegende
Baby die Augen auf und schloß sie wieder.“
## Lange nicht mehr gelobt worden
Oder über ein Jahrzehnt später: „U-Bahn. Zwei Welten. Zwei Hausfrauen, die
über ihren Alltag reden; ihnen gegenüber eine junge Geigerin, stilisiert in
ihrem Auftreten, strenge Kleidung, unnahbar: ganz auf Verachtung des
Alltags ausgerichtet.“
Immer wieder notiert er sich auch tagebuchartige Fragmente, die nicht
unmittelbar zur Veröffentlichung gedacht waren. „Ich ärgere mich über das
Anerkennungsbedürfnis der Künstler – und merke, daß ich schlechter Laune
bin, weil ich schon so lange kein Buch mehr veröffentlicht habe und nicht
mehr gelobt worden bin“, heißt es Anfang April 1988.
Die Angst vor dem Verlust der Schaffenskraft taucht gelegentlich auf. „Es
sind immer genug Einzelheiten für mich in der Welt. Zum Beispiel das
Schienenstück, das glänzt wie ein Stück Wasser. Ohne die Möglichkeit
solcher Entdeckungen könnte ich nicht mehr leben. Es ist bedrohlich für
mich, ich könnte zu solchen Entdeckungen eines Tages nicht mehr fähig
sein.“ Und fast schon refrainartig reflektiert er seine
Minderwertigkeitsgefühle infolge seiner gescheiterten Schullaufbahn.
Er kommt über den Journalismus zur Literatur und fühlt sich ohne Studium
wie ein Aufschneider. Schließlich holt er mit 39, da ist er längst ein
namhafter Autor, sein Abitur nach und beginnt ein Studium, das er 1993 mit
dem Magister abschließt. „Ein merkwürdiger Tag im Leben eines
Fünfzigjährigen: Am Morgen (11.00 Uhr) mündliche Nebenfach-Prüfung
(Soziologie) bei Prof. Kellner; am Nachmittag (16.00 Uhr)
Krebs-Vorsorgeuntersuchung.“
## Jahrelange Arbeit bei der „Titanic“
Auffällig an diesen Werktagebuch – möglicherweise auch nur dieser Auswahl �…
ist das Fehlen von wirklich lachenmachendem Material. Genazino arbeitet
jahrelang als Pardon-Redakteur, schreibt anschließend für die Titanic, ist
mit Robert Gernhardt, [2][F. W. Bernstein,] F. K. Waechter befreundet und
hat in vielen Vorträgen und Essays über Komiktheorie nachgedacht, aber in
diesen Aufzeichnungen überwiegt eine melancholische Stimmung, eine leise
Vergeblichkeitsmelodie, die man aus seinen Romanen kennt und die kaum
einmal von einer knallenden Pointe übertönt wird.
Wenn überhaupt, dann entzündet sich der Witz am sprachlichen Material.
„Wetterbericht im Radio: es sei ‚abends vielerorts klar‘ – schöne
Formulierung; erlaubt ihm zu denken: andernorts ist vieles unklar, zum
Beispiel hier, bei ihm im Zimmer“.
Vielleicht kommt ihm hier einmal mehr sein Neigung zum „Beiseitestehen“ in
die Quere, sein existenzielles Unwohlsein in der Menge, die jegliche
Vergesellschaftung fragwürdig machte. Eben auch im Lachen.
## Angriffe und Hirngespinste
In einer ausnahmsweise kritischen Bemerkung zu Gernhardt wendet er sich
ausdrücklich gegen „den Lacher, der allen möglich ist“, weil der „die
momentweise Aufhebung aller Konflikte“ zum Ziel habe. Mit so einem
[3][„Humor am Rande der Spießigkeit“] will er nichts zu tun haben.
Das kann man verstehen – und schade finden. Denn seine lockernde,
seelenstärkende Wirkung hätte ihn vielleicht ein wenig vor der Einsamkeit
und Bitterkeit bewahrt, die in den letzten Jahren seines Lebens offenbar
zunehmen.
„Altern: Man weiß nicht mehr, wogegen man sich wehren soll; man sieht nur
die Angriffe von allen Seiten – und weiß doch, daß sie Hirngespinste sind�…
schreibt er im August 2008. Und drei Wochen später: „Bald bin ich übrigens
tot“. Da hatte er noch zehn Jahre zu leben.
23 Jan 2023
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## AUTOREN
Frank Schäfer
## TAGS
Literatur
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