# taz.de -- Romane von Genazino und Kirchhoff: Im Hochhaus der deutschen Litera… | |
> Von der Nachkriegsmoderne zum Horrorbild: Frankfurt ist Schauplatz | |
> melancholischer Gegenwartsromane von Bodo Kirchhoff und Wilhelm Genazino. | |
Bild: Der zehnte Stock ist nicht unbewohnbar wie der Mond: Frankfurt. | |
Seit dem Wegfall der Grenzen, heißt es, entdeckt die deutsche Literatur | |
neue Räume. Es gilt als willkommener Ausweis von Weltläufigkeit, wenn | |
Debütanten in amerikanischen Highways ihre Kriegspfade entdecken oder am | |
Nordkap dem Gezwitscher der Meisen lauschen. | |
Während der Trend in die Breite geht, kehrt mit Bodo Kirchhoff ein Veteran | |
dieses Ausbruchs ins Zentrum der alten Bundesrepublik zurück und erkundet | |
mit dem Fahrstuhl die Höhe. Verblüffend daran ist, wie Kirchhoff, der mit | |
dem Südamerikaroman „Infanta“ (1990) das Deutschland der Kohl-Ära möglic… | |
weit hinter sich ließ, einfach per Knopfdruck hochschießt in einen | |
verwaisten Erzählraum, der zuletzt wohl seltener aufgesucht wurde als eine | |
x-beliebige Piste Osteuropas. | |
Im Hochhaus, dem städtebaulichen Symbol der Nachkriegsmoderne, ist die | |
deutsche Literatur, darin dem Mehrheitsgeschmack ihres Publikums folgend, | |
nie recht heimisch geworden. Seine Fahrstühle gleichen Katapulten ins | |
Abseits, und eine Endstation Sehnsucht ist die Wohnung im zehnten Stock | |
auch Hinrich, dem Erzähler von „Verlangen und Melancholie“. | |
Seine Tage verbringt der alte Mann in Trauer um seine Frau, die sich das | |
Leben genommen hat, zehn Jahre ist das schon her. Wenn er seine Einkäufe | |
auf dem Küchentisch abstellt, wirkt die Wohnung verlebt wie eine karge | |
Nachkriegsbühne, und wenn er sich an die Wand schmiegt, um das Winseln des | |
Hundes nebenan zu hören, scheint er in ein leicht vergilbtes Abziehbild | |
einer Einsamkeit zu schlüpfen, die ihn im Alter eingeholt hat. | |
In Kirchhoffs Hinrich einen späten Wiedergänger von Becketts Krapp zu | |
vermuten, der bis zum endgültigen Verstummen den Schleifen seiner | |
Erinnerungen lauscht, fällt genauso wenig schwer wie im Romantitel einen | |
erzählerischen Reflex auf Freuds Aufsatz „Trauer und Melancholie“ zu finde. | |
Vor diesem Hintergrund lässt Kirchhoff den Leser allerlei Mutmaßungen über | |
Hinrichs mögliches Krankheitsbild anstellen. | |
## Irritierende Sprache | |
Die Trauer verlangt es bekanntlich nach Trost, die Melancholie nach | |
Untröstlichkeit, Hinrich verlangt es jedoch zu erzählen, und seine Sprache | |
ist irritierend: viel zu beweglich für vorschnelle küchenpsychologische | |
Ferndiagnosen, zu satt und warm für einen wiedergekäuten Altmännerepilog. | |
Auch der Blick aus dem Fenster ist keineswegs randständig monoton. | |
Hinrich, Kulturredakteur im Ruhestand, kann sich die „Wohnung mit | |
Cityblick“ leisten, er schaut auf Grünanlagen, Museen und eine imposante | |
Skyline. Weil das nur in Frankfurt möglich ist, blickt er zugleich auf eine | |
literarische Stadtlandschaft, dicht beschrieben wie kaum eine zweite und | |
noch einmal widergespiegelt, auch wechselseitig, in den diesjährigen | |
Romanen des so unterschiedlichen Trios Kirchhoff, Mosebach und Genazino. | |
Kirchhoffs Erzähler wohnt gleichsam auf Augenhöhe mit den so windigen wie | |
klapprigen Bankern, Maklern, Lebedamen in Mosebachs grotesk-elegischem | |
„Blutbuchenfest“ (vgl. taz vom 8. 2. 2014), die nicht merken, aus der Zeit | |
gefallen zu sein, die sie immer noch zu repräsentieren glauben. Und wie | |
seit Jahrzehnten muss unter Hinrichs Balkon irgendwann der | |
einzelgängerische Erzähler Wilhelm Genazinos durchs städtische Grün | |
zockeln. | |
Auch seine neueste Version, Reinhard, ist wie das gute Dutzend seiner | |
Vorgänger damit beschäftigt, die „Vergleichgültigung“ einer übermächti… | |
Melancholie in den Reflexen einer minimalistischen Prosa zu überlisten: auf | |
Streifzügen durch eine Stadt, die sich in Genazinos Büchern seit | |
Jahrzehnten nicht geändert hat. | |
Reinhard kann in der „Bedürftigkeit eines Behinderten […] die Stille der | |
zerstörten Welt“ aufspüren, an die er sich „innerlich“ anschmiegt wie | |
Hinrich an die Wand, aber Klarheit gewinnen seine fragilen Eingebungen erst | |
vor dem Grauschleier, in dem die spezifischen Konturen der Stadt mitsamt | |
der Skyline verschwinden. Von jedem Lokalkolorit befreit, fügen sich | |
Straßen, Parks, Imbisse zu einem geschichtslosen urbanen Gebilde, vom | |
Reißbrettideal zum soziologischen Horrorbild heruntergekommen, und wer | |
Pierre Bourdieus Bonmot, das Kapital kenne keine Erinnerung außer der | |
Akkumulation, je einmal illustriert sehen möchte, der ist bei Genazinos | |
Bildern der Finanzmetropole bestens bedient. Wenn in den unwirtlichen | |
Resten des öffentlich Raums eine Geschichte spürbar ist, dann die des | |
Kahlschlags der Nachkriegszeit. | |
## Mangel an Traditionen in der späten Bundesrepublik | |
Genazinos Frankfurtbild benennt wie von selbst die Motive, warum Kirchhoff | |
vor drei Jahrzehnten literarisch mit der deutschen Gegenwart brach. Der | |
Mangel an Stoffen, Geschichte, Traditionen in der späten Bundesrepublik: | |
Das war das Lamento einer ganzen Generation, und es ist erstaunlich, wie | |
Kirchhoff eine Generation später die konstatierten Defizite von einst zu | |
verwandeln vermag in eine reiche Prosa: vor zwei Jahren in seinem großen | |
Roman „Die Liebe in groben Zügen“ und nun in dem wie aus derselben Bewegung | |
geschriebenen „Verlangen und Melancholie“. | |
Dieses Erzählen überrascht. Niemals könnte man vermuten, dass Hinrich nur | |
hundert Seiten nach seiner bleiernen Eingangsfrage, wann ein Leben zu Ende | |
sei („wenn das Herz nicht mehr schlägt oder es sinnlos erscheint, dass es | |
noch schlägt?“), beglückt feststellt, wie mitreißend das Schreiben doch | |
sei. Zu diesem Zeitpunkt sitzt Hinrich aber auch nicht mehr allein in der | |
Küche, sondern pellt mit Tochter und Enkel dicke Batzen geschmuggelten | |
Schwarzgelds aus Kondomen, an denen Nussnougatcreme klebt – eine pikante | |
Tätigkeit, zumal der braune Schmier auf den Scheinen überdeutlich an ihren | |
keineswegs sauberen Erwerb erinnert. | |
Mit anderen Worten: Der Roman hat sich von einer existenziellen Meditation | |
hoch über dem Gewimmel zu einem irdisch-unterhaltsamen Gaunerstück | |
entwickelt, das nach der Frankfurter Höhe auch beträchtlich an Raum in der | |
Breite gewinnt. Beides zusammen ergibt jede Menge Erzählstoff und ein | |
abwechslungsreiches Handlungsprofil, durch das sich der Erzählstrom bewegt: | |
„mitreißend“, wie Hinrich zu Recht bemerkt hat, aber nie überdreht. | |
Die Schmuggelkomödie erweist sich nur als Starthilfe, um Hinrich über die | |
Schweiz und Polen auf die Spur seiner verstorbenen Frau zu führen. Die | |
Gewissheit, sie habe mit ihm das Leben geteilt, entpuppt sich dabei als | |
Täuschung. Geteilt hat Irene ihr Leben vielmehr zwischen zwei Männern, | |
bevor sie es in den Fängen einer tiefen Melancholie verlor. Die Liebe, der | |
Hinrich nachtrauert, war ihr kein Trost, womöglich, ein Kirchhoff’scher | |
Leitgedanke, eine Krankheit zum Tod. | |
## Kapitulieren vor der Wucht von Worten | |
Die Erkenntnis bildet längst nicht das Ende dieses strukturell an Terézia | |
Moras „Ungeheuer“ erinnernden Romans, der gedanken- und wortreich um das | |
Verstummen als seinem dunklen Kern kreist. Irenes Leben endet, so Hinrichs | |
Antwort auf die Eingangsfrage, als sie mitten in ihrer Übersetzerarbeit den | |
Bleistift fallen lässt, sie kapituliert vor der Wucht von Worten – deren | |
hoher Ton einfließt in Hinrichs Sprache: eine romantische Aneignung jenes | |
Lebens, um das er sich betrogen fühlen könnte, fürchtete er nicht wie jeder | |
Trauernde, mit dem Nachlassen des Schmerzes zum Betrüger an der Toten zu | |
werden. | |
Denn natürlich ist sein Erzählverlangen vital, und es ist die Kunst dieses | |
Erzählens, aus dem vielfältig den Verlust und den Tod variierenden | |
Wahrheiten, Trugschlüssen, Sehnsüchten ein Vexierbild würdigen Lebens zu | |
schaffen, das am Ende nicht völlig auf den Hund kommt. | |
Ein Bild der Gegenwart ist das, und diese Gegenwart pulsiert, selbst in | |
Frankfurt, selbst in den hochschießenden Denkmälern städtebaulicher | |
Utopien, auch noch im Verfall. Kaum etwas taugt besser als Synonym für den | |
Tod der Innenstädte als die Namen von Billigkaufhäusern. Wenn Kirchhoff | |
jedoch von der Schließung einer „Woolworth“-Filiale erzählt, verleiht er | |
dem Laden einen Ort in der Geschichte rückeroberter Heimat, die Genazinos | |
melancholisches Grau so respektvoll überschreibt wie Hinrich das Verstummen | |
Irenes: ohne es auszulöschen. | |
Und das zeigt an, dass dieser Erzähler, begabt wie kaum ein zweiter, | |
endlich sein Thema gefunden hat: die lebenslangen Erfahrungen mit dem | |
Mangel an Eigenem und dem Begehren des Anderen in Geschichten zu erzählen, | |
die seiner Generation eigen sind. Der zehnte Stock ist nicht unbewohnbar | |
wie der Mond. | |
19 Dec 2014 | |
## AUTOREN | |
Hans-Jost Weyandt | |
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