| # taz.de -- Schriftsteller Eduardo Halfon: „Ein Kind zweifelt nicht am Erzäh… | |
| > Der Schriftsteller Eduardo Halfon spricht über seine komplexe Beziehung | |
| > zur guatemaltekischen Heimat und die Tätowierung seines Großvaters. | |
| Bild: Eduardo Halfon: „Fast alles, was ich schreibe, entwickelt sich aus Bild… | |
| Eduardo Halfons „Der polnische Boxer“ erschien diesen Herbst auf Deutsch | |
| und wurde von der Kritik begeistert aufgenommen. Sein Buch besteht aus zehn | |
| Erzählungen, die in der spanischen Erstausgabe zunächst in zwei getrennten | |
| Büchern erschienen sind. Sie zu einem Band zusammenzufassen „funktioniert“, | |
| so Halfon, „weil ich eigentlich an einem einzigen Buch schreibe, ein | |
| einziges Projekt verfolge“. Halfon bevorzugt es, die größere Narration aus | |
| vielen kürzeren Erzählungen zusammenzusetzen. Sein Werk lebt von den | |
| gezielten Auslassungen, der Spannung, die sich aus dem | |
| Nichtausgesprochenen, dem Verschwiegenem ergeben. Mit feinem Gespür für die | |
| Unzulänglichkeit und Ohnmacht des Wortes literarisiert der guatemaltekische | |
| Schriftsteller seine individuelle Erfahrung und entwickelt daraus die | |
| Grundlage für eine universelle Geschichte. | |
| taz: Herr Halfon, Sie sind in Guatemala geboren und lebten dort bis zu | |
| Ihrem zehnten Lebensjahr. Ihre Eltern beschlossen dann wegen Diktatur und | |
| Bürgerkrieg mit der Familie in die USA zu emigrieren. Mit dem Umzug 1981 | |
| wurde Englisch zu Ihrer bevorzugten Sprache. Sie leben heute in Nebraska, | |
| schreiben aber auf Spanisch. Warum? | |
| Eduardo Halfon: Nach meinem Universitätsabschluss in North Carolina kehrte | |
| ich, auch weil mein Studentenvisa für die USA abgelaufen war, für einige | |
| Jahre nach Guatemala zurück. Ich sprach ein schlechtes Spanisch mit starkem | |
| Akzent. Ich musste mir die Muttersprache erst wieder aneignen und tue es im | |
| Grunde bis heute. | |
| Trotzdem schreiben Sie auf Spanisch? | |
| Ja. Als ich mit ungefähr 30 Jahren zu schreiben begann, lebte ich gerade in | |
| Guatemala. Entscheidend ist, dass Spanisch die Sprache meiner Kindheit ist. | |
| Ihre guatemaltekische Kindheit blieb nach all den Jahren in den USA der | |
| Ausgangspunkt Ihrer Literatur? | |
| Fast alles, was ich schreibe, entwickelt sich aus Bildern meiner Kindheit. | |
| Aus Bildern wie der eintätowierten Zahlenfolge auf dem Arm meines | |
| Großvaters. Das Bild dieser Ziffern und seine Scherze: „Ach, das ist meine | |
| Telefonnummer“, ist Ausgangspunkt vieler meiner Erzählungen. Mein Buch | |
| „Mañana nunca lo hablamos“ (dt.: „Morgen sprachen wir nie davon“) hand… | |
| von meinen Erfahrungen in den siebziger Jahren in Guatemala, was es hieß, | |
| dort aufzuwachsen. Vieles in diesem Buch ähnelt stark meiner eigenen | |
| Kindheit. | |
| Betrachten Sie sich als guatemaltekischer Schriftsteller? | |
| Es fällt mir immer noch schwer, mich überhaupt als Schriftsteller zu | |
| bezeichnen. Schließlich wurde ich dazu nicht ausgebildet und kam sehr spät, | |
| eher durch Zufall, zur Literatur. | |
| Und als Guatemalteke? | |
| Meine Beziehung zu Guatemala ist ziemlich komplex. Ich bin Guatemalteke, | |
| meine Familie lebt dort, und ich fahre regelmäßig hin. Trotzdem habe ich | |
| mich nie „guatemaltekisch“ gefühlt. Überhaupt ist die Frage nach Identit�… | |
| in einem Land nur schwer zu beantworten, in dem 60 Prozent der Bevölkerung | |
| indigen, aber weder in der Regierung noch in den Institutionen vertreten | |
| sind. | |
| Wenn Sie an Ihre Kindheit in den Siebzigern in Guatemala denken, an was | |
| erinnern Sie sich besonders? | |
| Dort in einer jüdischen Familie aufzuwachsen war ziemlich kompliziert. Alle | |
| meine Freunde feierten die Erstkommunion – ich nicht. Sie feierten | |
| Weihnachten – ich nicht. In einem Land, dessen Leben sich komplett um den | |
| Katholizismus organisiert, gelingt es dir nicht so einfach, dich als Teil | |
| des Ganzen zu begreifen. Du betrachtest die Dinge dann eher von außen. | |
| Meine Integration hat nie stattgefunden. | |
| In dem bereits erwähnten Band „Mañana nunca lo hablamos“, aus dem eine | |
| Erzählung bisher auf Deutsch im Unionsverlag erschienen ist, nähern Sie | |
| sich aus der Perspektive eines Kindes der Geschichte von Bürgerkrieg und | |
| sozialer Realität. Gleichzeitig berichten Sie aber auch von einer Welt, die | |
| Ihnen verloren gegangen sei. Wie sieht sie aus? | |
| Alle Kinder werden irgendwann aus dem Paradies in die Realität gestoßen. In | |
| meiner Erinnerung markierten die siebziger Jahre in Guatemala – im | |
| Angesicht von Schrecken, von Völkermord und der bewaffneten | |
| Auseinandersetzungen – eine vollkommene Kindheit. Ich lebte getrennt von | |
| der Wirklichkeit, wie unter einer Glasglocke. Das dauerte bis zu dem | |
| Moment, an dem das Militär einen Unterschlupf der Guerilla gegenüber meiner | |
| Schule stürmte. Da habe ich als Kind etwas begriffen. | |
| Was interessiert Sie literarisch an dieser Perspektive? | |
| Die Kindheit entspricht in gewisser Weise dem, was Literatur auch ausmacht. | |
| In meinen Erzählungen ist diese eigene kindliche Vorstellungswelt der | |
| Ausgangspunkt für den Übergang von der Illusion zur Realität. In meinem | |
| Buch „Der polnische Boxer“ versteht der junge Eduardo Halfon plötzlich, | |
| dass die eintätowierte Nummer auf dem Arm seines Großvaters nichts mit | |
| seiner Fantasie zu tun hat. Es ist keine Telefonnummer, sondern ein Scherz, | |
| der direkt zum KZ Auschwitz führt. In einer anderen Erinnerung meiner | |
| Kindheit, aus der ebenfalls eine kurze Erzählung entstanden ist, betritt | |
| unsere Familie eines Sonntags in ausgelassener Stimmung ein sehr beliebtes | |
| Restaurant. Irgendwann deutet mein Vater auf den Nachbartisch, an dem eine | |
| beeindruckende, wunderschön gekleidete Frau sitzt. Sie gehörte zu den | |
| Guerilleros, die meinen anderen, den libanesischen Großvater 1967 entführt | |
| hatten. | |
| Ihr Großvater war in Guatemala gekidnappt worden? | |
| Ja, und nach der Zahlung eines hohen Lösegeldes kam er nach 35 Tagen wieder | |
| frei. Ich erinnere mich an diesen Moment in dem Restaurant wie an einen | |
| Faustschlag. | |
| Wie groß sind die Unterschiede zwischen Ihnen als realem Menschen und | |
| Eduardo Halfon, dem Protagonisten Ihrer Erzählungen? | |
| Äußerst groß. Der literarische ist impulsiver. Er raucht, reist umher und | |
| ist auf der Suche. Dagegen bin ich in Wirklichkeit sehr viel rationaler – | |
| ängstlich und feige. Er dagegen spricht die Dinge einfach aus. Ich hätte | |
| meine Figur auch Arturo Belano oder Emilio Renzi nennen können, so wie es | |
| Roberto Bolaño oder Ricardo Piglia getan haben. Aber ich wollte den | |
| Unterschied zwischen Fiktion und Realität so weit wie möglich verwischen, | |
| vielleicht auch, um die Leser zu täuschen. | |
| Inwiefern? | |
| Eduardo kauft einen fiktionalen Roman, doch er vergisst es und beginnt die | |
| Geschichte für wahr zu halten – wie ein Kind, das nicht an dem zweifelt, | |
| was man ihm erzählt. Das gefällt mir. | |
| Bei der Titelgeschichte „Mañana nunca lo hablamos“ unternimmt der Junge mit | |
| seiner Großmutter einen Ausflug zur Eisdiele. Es ist der Vorabend seiner | |
| Abreise aus Guatemala. Der Umgang von Enkel und Großmutter scheint sehr | |
| vertraut. Warum siezen sich trotzdem? | |
| Meine spanischen Verleger möchten solche Stellen korrigierend in „Du“ | |
| umwandeln. Tatsächlich haben sogar wir Geschwister uns gesiezt. In den | |
| Siebzigern wurde in Guatemala so in unserer Familie gesprochen. Noch heute | |
| wird dort – anders als etwa in Argentinien – häufig die Sie-Form benutzt. | |
| Guatemala ist eine alte Klassengesellschaft mit sehr viel Distanziertheit. | |
| 28 Nov 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Eva-Christina Meier | |
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