# taz.de -- Zentralamerikas Kulturbetrieb: „Kein Platz für Bücher“ | |
> Seit 2013 gibt es in Nicaragua das Literaturfestival „Centroamérica | |
> cuenta“. Gründer, Autor und Politiker Sergio Ramírez im Gespräch. | |
Bild: Sergio Ramírez gratuliert Ernesto Cardenal zu seinem neunzigsten Geburts… | |
Mitte Mai trafen sich nun zum dritten Mal in Nicaragua Autoren, Übersetzer, | |
Verleger und Leser aus Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras, | |
Nicaragua, Panama, Mexiko, Kolumbien. Sie diskutierten über Literatur und | |
die Realität dieser vielfältigen von Migration, Korruption und Drogenhandel | |
geprägten Region Lateinamerikas. Das Motto der diesjährigen Literaturtage | |
„Palabras en Libertad“ (Deutsch: „Worte in Freiheit“) ist eine Hommage … | |
die im Januar von Islamisten in Paris ermordeten Mitarbeiter der | |
Zeitschrift Charlie Hebdo. Doch als dann dem eingeladenen französischen | |
Karikaturisten von Charlie Hebdo, Jules Berjeaut (JUL), die Einreise nach | |
Nicaragua verweigert wurde, bekam diese Forderung nach Meinungsfreiheit | |
eine ganz eigene Dringlichkeit. | |
taz: Herr Ramírez, gab es von der Regierung Daniel Ortegas eine offizielle | |
Erklärung zum Einreiseverbot des Karikaturisten Jules Berjeaut? | |
Sergio Ramírez: Nein, überhaupt keine. Die Regierung ist mit der üblichen | |
Arroganz aufgetreten. Sie liefert keine Erklärungen. Sie betreibt eine | |
Politik der Geheimhaltung. Aber eigentlich war dieses Einreiseverbot von | |
JUL eine völlig überflüssige Maßnahme der Intoleranz. Denn nicht nur im | |
politischen Apparat, sondern auch in der Gesellschaft besteht bereits ein | |
hoher Grad an Konformität. Die Opposition ist geschwächt. | |
Abgesehen von diesem politischen Vorfall – was erscheint Ihnen in diesem | |
Jahr besonders? | |
Wir sind gewachsen. Was vor drei Jahren zunächst als Experiment mit | |
Unterstützung des [1][Goethe-Instituts] und der französischen Botschaft | |
anfing, konnten wir inzwischen zu einem Literaturtreffen mit vielen Gästen | |
aus weiteren Ländern und einem umfangreicheren Veranstaltungsprogramm in | |
Kulturzentren, Buchhandlungen, Schulen und Universitäten in Managua und | |
Leon ausbauen. Wenn es uns auch in Zukunft gelingt, die Finanzierung zu | |
sichern, dann könnte „Centroamérica cuenta“ (Deutsch: „Zentralamerika | |
(er)zählt“) zu einem großen Kulturfest in Zentralamerika werden – mit ein… | |
eigenen Buchmesse und jährlichem Filmprogramm zum zentralamerikanischen | |
Kino. Wir würden uns dann in verschiedenen Formaten bewegen, wie in einem | |
Zirkus. | |
Zwischen 1986 und 1990 waren Sie Vizepräsident der ersten sandinistischen | |
Regierung, 1995 kam es wegen ihrer Forderungen nach demokratischen Reformen | |
zum Bruch mit Daniel Ortega und der FSLN. Im Programm der diesjährigen | |
Literaturtage schreiben Sie: „Ich glaube, in diesem ungewiss anbrechenden | |
21. Jahrhundert ist die Kultur die Zeit Zentralamerikas, nach der wir | |
unsere Uhren stellen müssen.“ Welche Vorteile bietet die Kultur im | |
Vergleich zur Politik? | |
Bis heute hat die Politik in Zentralamerika die Gewohnheit eher ausgrenzend | |
und trennend zu wirken. Kultur und Literatur sind dagegen integrativer, sie | |
haben die Fähigkeit zu verbinden. Weil sie nicht ideologisch oder | |
parteipolitisch ist, kann Kultur Leute mit sehr unterschiedlichen | |
Denkweisen erreichen. Besonders die Literatur lehrt uns, frei zu denken. | |
Deshalb muss man gerade in Zentralamerika die Kultur mit der Politik | |
kreuzen. | |
Die 1980 initiierte Alphabetisierungskampagne war vielleicht die | |
eindrücklichste Maßnahme der sandinistischen Revolution. Welche Rolle | |
spielen Bücher und spielt das Lesen heute in Nicaragua? | |
Ich würde sagen, keine sehr große. Denn in Nicaragua ist die Gesellschaft | |
nach wie vor eine sehr ungleiche. Hier gibt es wenige Reiche, eine kleine | |
Mittelschicht und die unendliche Masse von Menschen, die mit weniger als | |
umgerechnet zwei Dollar täglich überleben müssen, die Hälfte der | |
Bevölkerung. In vielen Familie arbeiten alle mit. Drei Löhne sind | |
notwendig, nur um den Bedarf der Grundnahrungsmittel zu decken. Da gibt es | |
keinen Platz für Bücher. Außerdem können immer noch große Teile der | |
Gesellschaft weder lesen noch schreiben. Das ist die Realität, mit der wir | |
Schriftsteller uns konfrontiert sehen. | |
Ziemlich entmutigend. | |
Das finde ich nicht. Schreiben ist zunächst einmal ein kreativer, dann ein | |
kritischer Beitrag für die Gesellschaft. So entsteht die kulturelle | |
Tradition eines Landes. Es gibt keinen Grund, damit zu warten, bis alle | |
lesen und schreiben können. Die Lösung der großen sozialen Probleme aber | |
ist die Aufgabe des Staats. | |
Eine Woche diskutierte man jetzt auf dem Festival in Managua Themen wie | |
Gewalt, Zensur oder sexuelle Vielfalt. Oft zeigte sich dabei, wie | |
unterschiedlich die Lebensbedingungen und die Voraussetzungen für das | |
Schreiben in der Region sind. Trotzdem bestehen Sie darauf: „Zentralamerika | |
existiert oder es ist zumindest möglich.“ Können Sie das erläutern? | |
In der Vergangenheit Zentralamerikas hat die Politik eher Spaltung | |
betrieben. Seit der Unabhängigkeit streiten wir untereinander. Oftmals um | |
geringfügige Angelegenheiten wie etwa einzelne Grenzverläufe. Die großen | |
gemeinsamen Themen – etwa derzeit Arbeitslosigkeit, Drogenhandel und | |
Migration – werden nicht verhandelt. Die großen Probleme Zentralamerikas | |
kann man aber nur gemeinsam lösen. | |
Wie soll das gehen? | |
Es ist eine Illusion zu glauben, Zentralamerika wäre ohne eine gemeinsame | |
Identität überlebensfähig. In einer globalisierten Welt haben so kleine | |
Länder wie die zentralamerikanischen sehr wenig Zukunft. Zusammen aber | |
zählen wir 40 Millionen Einwohner. Gemeinsam würden wir über beträchtliche | |
Ressourcen verfügen, wenn die Staaten sich durch ihre Egoismen nicht | |
dauernd gegenseitig ausbremsen würden. Deswegen sehe ich hier die Kultur, | |
natürlich unter Einbeziehung der Bildung, in einer bedeutende Rolle. | |
In der Literatur Zentralamerikas und auch in ihrem eigenen umfangreichen | |
Werk erscheint die Erzählung als beliebtes Format. Wie erklären Sie diese | |
Vorliebe? | |
Die Literatur in Zentralamerika entsteht im 19. Jahrhundert ohne einen | |
Markt. Ich finde es bewundernswert, dass man sich damals hingesetzt hat, um | |
einen Roman zu schreiben, obwohl nur ein paar Leser, wenige Druckereien, | |
kaum Verlage und Buchhandlungen existierten. Trotzdem entstand Literatur. | |
Ich sehe darin ein kulturelles Merkmal. Bis heute hat sich an dieser | |
Situation eigentlich wenig geändert. Einen Roman zu schreiben, bedarf es | |
der Anstrengung vieler Monate oder mehrerer Jahre. Eine Erzählung von | |
wenigen Seiten eröffnet ganz andere Möglichkeiten. | |
Die Literaturtage in Managua boten ebenfalls die Möglichkeit zum Austausch | |
mit Übersetzern und Literaturwissenschaftlern aus Frankreich, Deutschland, | |
Spanien und Holland. So ging man auf einem Symposium zur Literatur aus | |
Zentralamerika und ihrer europäischen Rezeption der Frage nach, warum nach | |
dem Boom der 1970er und 1980er Jahre mit Autoren wie Gabriel García | |
Márquez, Ernesto Cardenal oder Giaconda Belli Literatur aus Lateinamerika | |
nie wieder vergleichbare Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit in Europa erzielen | |
konnte. Welche Erklärung haben Sie dafür? | |
Das ist wohl ein kommerzielles Phänomen. Die Literatur Lateinamerikas | |
erreichte in einem bestimmten Moment die europäischen Verlage und | |
Buchhandlungen. Sie verwandelte sich in eine Marke – den magischen | |
Realismus. Dieses Label aber hat alle anderen Ausdrucksformen ruiniert, | |
weil man nun vielerorts dachte, der magische Realismus sei ein Synonym für | |
lateinamerikanische Literatur. Ich glaube aber, dass im 21. Jahrhundert die | |
literarischen Themen im Vordergrund stehen und nicht die nationale | |
Identität oder die Tatsache Lateinamerikaner zu sein. Ich vertraue darauf, | |
dass dies von den Lesern auch wahrgenommen wird. | |
2 Jun 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://www.goethe.de/ins/mx/lp/prj/lit/deindex.htm | |
## AUTOREN | |
Eva-Christina Meier | |
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