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# taz.de -- Roman aus Kolumbien: Die Gewalt entschlüsseln
> Fesselnd, phänomenal und versiert übersetzt: „Die Reputation“, der neue
> Roman des Kolumbianers Juan Gabriel Vásquez.
Bild: Ist Verdächtigung selbst schon ein Übel?
Eine feiste, schlaffe Hand, breite Stirn, schlecht verteiltes Gel an der
linken Schläfe, ein Auswuchs am Hinterkopf: so fies und schmierig sieht der
Politiker Adolfo Cuéllar aus, den der Starkarikaturist Javier Mallarino bei
einem Fest bei sich zu Hause empfangen muss.
Obendrein ist Cuéllar auch noch wehleidig. Der kolumbianische Politiker
bekniet den Zeichner, ihn nicht weiter zu überzeichnen. Denn er sei im
Grunde ein guter Mensch, mit Frau und zwei Söhnen, die könnten das
bestätigen.
Weil er glaubt, dass dieser Schleimer noch am selben Abend ein kleines
Mädchen missbraucht hat, stellt Mallarino den Politiker an die Schandmauer
seiner Zeitung und erhöht dadurch seinen Ruf als unbestechlicher Kritiker
der Eliten. Er hat den Furunkel am Hinterkopf ausgepresst. Doch so ein
Furunkel kann lebensgefährlich werden. Der Karikaturist hat den
Abgeordneten damit in den Selbstmord getrieben, 28 Jahre später trifft es
ihn selbst.
Nach einer Feier, bei der man den Zeichner als moralische Instanz gefeiert
hatte, meldet sich die junge Frau, die als Mädchen angeblich von Cuéllar
missbraucht wurde. Sie bringt den Cartoonisten aus der Fassung. Seine
Erinnerungsbilder verschwimmen, der Marmor bröckelt. Seine Macht, die nur
aus Papier und Tusche bestand, fließt dahin. Jetzt droht dem
Karikaturisten, dass er selbst die Reputation verlieren könnte.
## Kein „magischer Realismus“
Der kolumbianische Autor Juan Gabriel Vásquez, 1973 in Bogotá geboren,
wurde schon als Nachfolger von Gabriel García Márquez gehandelt. Mit dem
„magischen Realismus“ will der Autor jedoch nichts zu schaffen haben. Er
will die Gewalt und Grausamkeit seines Landes nicht verzaubern, sondern
entschlüsseln, auch wenn er sie an skurrilen Ereignissen festmacht, wie
zuletzt in seinem Roman „Das Geräusch der Dinge beim Fallen“.
Da führte eine Zeitungsnotiz über ein entflohenes Nilpferd aus dem Zoo des
Drogenkönigs Pablo Escobar dazu, dass sich ein gescheiterter Juraprofessor
an den Terror der Drogenbosse erinnert, der seine Opfer nach dem bloßen
Ungefähr auswählte: Es hätte auch jeden anderen als Opfer treffen können.
In dem neuen Roman erhält dieses „Ungefähr“ eine andere Bedeutung.
Möglicherweise führte die Schwarz-Weiß-Zeichnung eines Mannes, der sich im
Dienst der Aufklärung wähnte, zu einem verheerenden Ende. Vielleicht war
der gegelte Typ gar kein Ekelpaket.
## Verschiedene mögliche Lesarten
Die Begegnung mit der Witwe zur Konfrontation mit der
Vergangenheit/Wahrheit bleibt aus. „Kümmerlich ist das Gedächtnis, das sich
nur nach rückwärts wendet“, heißt es in dem Roman, der indirekt die
aktuelle Vergangenheitsobsession und zugleich die Macht der Medien
kritisiert. Aber diesen Schluss kann nur der Leser ziehen.
Ein anderer Schluss wäre: Das Gedächtnis schwächelt, es gibt keine
Gewissheit. Oder aber: Wo Unsicherheit besteht, sollte man nachfragen,
klären, erklären. Ein weiterer, banaler Schluss: Der alte Mann will mit der
jüngeren Besucherin anbändeln. Oder er will sich umbringen, weil er nun
selbst seinen guten Ruf verloren hat. So wird dieser kurze Roman durch die
verschiedenen möglichen Lesarten, die Reflexion zu einem schillernden
Objekt.
Die französisch-russische Romancière Nathalie Sarraute hat einmal einen
Essay über „Das Zeitalter des Verdachts“ geschrieben. Dieser Verdacht liegt
nicht nur auf den Mächtigen, sondern auch auf denen, die die Macht
kritisieren und überzeichnen. Vásquez dreht die Schraube noch eine Drehung
weiter: Ist Verdächtigung selbst schon ein Übel? Herrscht im Allgemeinen
eine Unschärfe?
Vásquez überlässt, wie gesagt, dem Leser das Urteil. Er konzentriert sich
auf die Beschreibung von Furunkeln. Und wie der Kolumbianer dabei seine
Figuren einkreist, wie er sich kurz fasst, ist fesselnd und phänomenal.
Wortklug und versiert übersetzt von Susanne Lange.
17 Apr 2016
## AUTOREN
Ruthard Stäblein
## TAGS
Kolumbien
Literatur
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Literatur
Gabriel García Márquez
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