# taz.de -- Gangstergeschichten aus Kolumbien: Auf den Spuren des Bösen | |
> Pablo Escobar hat den Ruf seiner Heimatstadt Medellín geprägt. Bei | |
> Netflix ist er en vogue. Ein Rundgang zur Geschichte des Kokain-Terrors. | |
Bild: Blcik auf Medellín und die Kabelbahn. | |
Carrera 44 No. 15 Sur 31“ steht über dem Fenster der Pförtnerloge. Das | |
Rolltor ist zugezogen. Daneben hängt eine weiße beschriftete Plane, die das | |
Grundstück als von der Nationalpolizei beschlagnahmt ausweist. | |
„Im obersten Stock des Gebäudes lebte Pablo Escobar mit seiner Familie. | |
Quasi vis-à-vis zum Country Club“, erklärt Paula. Der Country Club von | |
Medellín hatte dem neureichen Drogenzar Mitte der 1980er Jahre den Eintritt | |
verweigert. Daraufhin baute der geltungssüchtige Escobar in direkter | |
Nachbarschaft das Edificio Mónaco. | |
„Ein modernes Apartmenthaus mit mächtiger Satellitenanlage, Swimmingpool | |
und geräumiger Garage für seine Lieblingsautos“, erklärt die Kolumbianerin | |
in flüssigem Englisch. Die Satellitenanlage steht in einer Ecke des | |
Grundstücks, das Gebäude wirkt abgewrackt, heruntergekommen. | |
„In der Nachbarschaft warten schon viele auf den Abriss“, so die 31-jährige | |
Stadtführerin. Seit drei Jahren ist Paula Restrepo (Name auf ihren Wunsch | |
geändert) mehrmals pro Woche im Einsatz, um Touristen und einigen wenigen | |
Kolumbianerinnen zu erklären, wer Pablo Escobar war und welche Bedeutung er | |
bis heute für ihre Heimatstadt hat. | |
## Die Wahrheit über den Patrón del Mal | |
Auf die Idee einer Stadtführung im Zeichen des „Patrón del Mal“, so lautet | |
der Titel der 2012 ausgestrahlten kolumbianischen Telenovela, anzubieten, | |
kam ihr Chef Nicolás Solórzano. Der schlaksige Enddreißiger gründete „Pai… | |
Road“ nach einer Rucksacktour auf der Spur von Ernesto „Che“ Guevara. | |
Mehrfach wurde er in Argentinien als Koks-Kolumbianer gefoppt und | |
registrierte, wie wenig die Menschen selbst in Lateinamerika über die | |
bleiernen Jahre in Medellín wissen. | |
Nach der Rückkehr begann der gelernte Grafiker zu recherchieren und stellte | |
in einem halben Jahr das Konzept für die erste Escobar-Tour in Medellín auf | |
die Beine: „Wir wollen die andere Seite Pablo Escobars zeigen, nicht die | |
schillernde, die bei Netflix und in unserer eigenen Telenovela Konjunktur | |
hat, sondern die Folgen des Terrors für die Bevölkerung“, erklärt er. | |
Solórzano lenkt den Bus, kümmert sich darum, dass alles wie am Schnürchen | |
läuft, während Paula, eigentlich Musikerin, schildert, wie Pablo Escobars | |
Aufstieg begann und wo er in Poblado seine Spuren hinterlassen hat. | |
Poblado heißt das angesagte Ausgeh- und Touristenviertel Medellíns. Hier | |
befinden sich die vier, fünf Hostels, wo Nicolás seine Tour anbietet, aber | |
auch Cafés, Bars, Discotheken sowie mehrere der Gebäude, von wo aus das | |
Medellín-Kartell sein Kokain-Imperium koordinierte. | |
„Das Edificio Mónaco gehörte nur acht Monate dazu. Dann riss eine Autobombe | |
einen riesigen Trichter in den Asphalt vor dem Haus“, erklärt Paula und | |
reicht ein eingeschweißtes Schaubild mit vergilbten Fotos herum. Auf denen | |
sind das beschädigte Haus und der Trichter, den die Autobombe am 13. Januar | |
1988 hinterließ, gut zu sehen. Das Datum markiert den Auftakt für den | |
offenen Krieg zwischen dem Cali- und dem Medellín-Kartell: Sicarios, | |
Auftragskiller, nahmen die Schlüsselfiguren des konkurrierenden Kartells | |
damals ins Visier. | |
## Medellín: das Ende der Offenheit | |
„Doch das war nur ein Grund, weshalb Medellín zwischen 1987 und 1993 zur | |
gefährlichsten Stadt der Welt wurde. Pablo Escobar hatte obendrein dem | |
kolumbianischen Staat den Krieg erklärt, um die eigene Auslieferung und die | |
seiner Capos in die USA zu verhindern“, erklärt Paula. | |
„Lieber ein Grab in Kolumbien als eine Zelle in den USA“, das war der | |
Slogan, mit dem Pablo Escobar den kolumbianischen Staat davon abbringen | |
wollte, ihn und andere Drogenbarone an die Justiz der USA auszuliefern. Für | |
die Einwohner Medellíns bedeutete das ein Leben im permanenten | |
Ausnahmezustand. Mehrere Dutzend Autobomben detonierten in den sechs Jahren | |
des Narco-Terrors, mehr als 140 Anschläge wurden registriert. Kein Tag | |
verging, ohne dass Leichen gefunden wurden. „1991 waren es im Durchschnitt | |
zwanzig Tote am Tag. Medellín war zur gefährlichsten Stadt der Welt | |
geworden“, erklärt Paula und lässt eine Schautafel mit den harten Fakten | |
herumgehen. | |
381 Morde pro 100.000 Einwohner wurden in Medellín 1991 registriert – in | |
Paris waren es im selben Jahr 3,8 Morde. Nicolás winkt die Gruppe zurück | |
zum Bus. Nachdenkliches Schweigen herrscht, als es vorbei an zwei weiteren | |
Gebäuden des Medellín-Kartells, den Bürogebäuden Dallas und Ovni, zur Rosa | |
Mística, der Schutzheiligen der Sicarios, geht. Am Rande des Ortsteils | |
Poblado befindet sich der Wallfahrtsort der Jungfrau von Aguacatala. | |
## Die Schutzheilige der Auftragskiller | |
Ein paar Motorräder, ein halbes Dutzend Autos stehen auf dem Parkplatz | |
davor, und auf dem Weg zu der auf einem Hügel zwischen Bäumen stehenden | |
Betonmuschel mit der Figur der Jungfrau tauchen die ersten emaillierten | |
Blechschilder mit Danksagungen auf. Sicarios bitten hier inbrünstig um | |
Schutz und Schussglück, die Angehörigen von Entführungsopfern hingegen um | |
baldige Freilassung. | |
Jaime Barrientos, der Mann mit dem graumelierten Bart und der eckigen | |
Brille, ist in Medellín aufgewachsen und heute nur dabei, weil er einen | |
ausländischen Freund begleitet. „In Medellín will kaum jemand an die Jahre | |
des Terrors erinnert werden“, erklärt er schulterzuckend. Die Spuren, die | |
Pablo Escobar in Kolumbiens Gesellschaft hinterlassen hat, sind tief und | |
wirken nach. | |
„Die Kultur der Korruption gehört genauso dazu wie die der Sicarios. Es ist | |
leichter, in Kolumbien einen gedungenen Mörder zu verpflichten, als einen | |
fairen Prozess zu bekommen“, erklärt Barrientos mit gedämpfter Stimme. | |
Etwas abseits von der Gruppe unter einer gespannten Zeltplane hat er sich | |
auf eine Bank gesetzt, von der man einen guten Blick auf die Heiligenfigur | |
der Rosa Mística hat. Die ist umgeben von unzähligen kleinen Plaketten mit | |
Danksagungen, die fast den gesamten Hügel bedecken. | |
Jugendliche Auftragsmörder hat Pablo Escobar zu Hunderten angeworben, um | |
sein Drogenimperium auszubauen und den Staat herauszufordern. Sie wurden | |
auf Politiker wie den Justizminister Rodrigo Lara angesetzt, der schon 1984 | |
sterben musste, weil er sich für die Auslieferung von Drogenkönigen wie | |
Escobar einsetzte, gegen Journalisten wie Guillermo Cano vom „El | |
Espectador“, weil sie über den wachsenden Einfluss Escobars schrieben, oder | |
gegen Richter und Staatsanwälte, die gegen ihn ermittelten. | |
„Das hat Kolumbiens Justizsystem bis heute nicht überwunden“, urteilt | |
Héctor Abad Faciolince, Schriftsteller, Journalist und Literaturverleger in | |
Personalunion. Er ist im Medellín der 1970er aufgewachsen. „Fast alle | |
Kinder gingen da noch zu Fuß zur Schule“, erinnert er sich. Heute | |
undenkbar. | |
Die Jahre des Terrors hat Abad größtenteils als Student von Italien aus | |
verfolgt. „Schockierend war die bedrückende Realität, wenn ich nach Hause | |
kam. Eine Freundin von mir wurde von einer Autobombe schwer verletzt. Ich | |
habe keinerlei Sympathie für den Drahtzieher dieses Terrors“, erklärt der | |
58-Jährige. 20 Tote und mehr als 100 Verletzte, so lautete die Bilanz | |
dieser Autobombe in der Nähe der Stierkampfarena von Medellín, die Mitte | |
Februar 1991 hochging. Diesen Terror haben viele nicht vergessen, und dem | |
Mythos Escobar können sie nichts abgewinnen. | |
„Nur weil Escobar ein paar Sozialwohnungen hat bauen lassen, gibt es keinen | |
Grund, ihn zum Robin Hood Medellíns aufzuplustern. Das ist so ähnlich, wie | |
Adolf Hitler wegen des Baus der Autobahnen zu loben“, kritisiert Abad. Er | |
plädiert für einen kritischen Umgang mit der Geschichte der Gewalt in | |
Kolumbien und ist selbst ein Opfer des Terrors. Sein Vater, Doktor und | |
Menschenrechtler, wurde 1987 wegen seines Engagements von Killern der | |
Paramilitärs ermordet. Auch ein Grund, weshalb Abad die Stadtspaziergänge | |
im Zeichen Pablo Escobars ablehnt – auch wenn es da beachtliche | |
Unterschiede gibt. | |
## Zwischen Mythos und Realität | |
Einige der Konkurrenten von „Paisa Road“ machen Station bei Roberto | |
Escobar, dem Bruder Pablos und Finanzverantwortlichen des | |
Medellín-Kartells, andere werben mit Jhon Jairo Velásquez alias „Popeye“, | |
dem vor zwei paar Jahren aus der Haft entlassenen Chef der Killerkommandos | |
von Escobar, und stricken am zweifelhaften Ruhm des reichsten und | |
skrupellosesten Drogenbosses Kolumbiens. | |
Für Nicolás Solórzano kommt das nicht infrage. Nicht nur weil sein bester | |
Freund bei einem der Bombenanschläge ums Leben kam, sondern auch weil er | |
den sensationslüsternen Tourismus ablehnt. „Der Mythos Escobar wird mit | |
einer gehörigen Portion Sex, aber auch mit dem Konsum von Koks und Co. | |
verkauft – nicht nur durchs Kino. Wir haben in Medellín schon genug | |
Probleme mit dem Sextourismus“, ärgert er sich und winkt die Gruppe zum | |
Bus, um zur nächsten Etappe zu fahren – dem letzten Wohnort des | |
Kokainkönigs. | |
Der liegt in einem unscheinbaren Mittelklasseviertel im Herzen Medellíns. | |
Nahe dem Stadion, wo der Club von Pablo Escobar antritt: Atlético Nacional | |
de Medellín. Dessen Spieler waren in den 1980er Jahren regelmäßig auf | |
Escobars prächtiger Hacienda Nápoles und später auch in seinem | |
Privatgefängnis „La Catedral“ zu Besuch. Dort lebte der Chef des | |
Medellín-Kartells von 1991 bis 1992 mit allem Komfort – dank eines Deals | |
mit der kolumbianischen Regierung. | |
## Kein glamouröses Ende des Drogenbarons | |
Komfort fehlte in dem kleinen, zweistöckigen Reihenhaus in der 45. Straße, | |
wo Escobar im Dezember 1993 schließlich von Spezialeinheiten aufgespürt | |
wurde. „Ein zu langes Telefonat mit seinem Sohn brachte die Polizeieinheit | |
auf seine Spur, und sein Fluchtversuch über das Nachbardach wurde durch | |
eine Kugel gestoppt“, erklärt Paula lapidar und reicht eine weitere | |
Schautafel mit farbigen Fotos herum. El Final, das Ende, steht drauf und | |
das Todesdatum: der 2. Dezember 1993. Darunter posieren mehrere | |
Uniformierte wie eine Jagdgesellschaft vor der Leiche Escobars, dem der | |
Bauch aus dem hoch gerutschten T-Shirt quillt. | |
Kein glamouröses Ende, das sich einige Teilnehmer der Tour versprochen | |
hatten, die im Hintergrund auf Englisch flüstern. Zwei Kanadier lassen sich | |
schließlich noch vor dem letzten Schlupfwinkel Escobars fotografieren, | |
bevor es weiter zur letzten Etappe, dem Friedhof Jardines Montesacro, | |
geht.Der befindet sich in Itagüi, im Süden Medellíns, nur ein paar | |
Kilometer von Envigado entfernt, dem Stadtteil, wo Pablo Escobar aufwuchs. | |
Zum 20. Todestag hat die Familie das Grab mit schwarzem Marmor einfassen, | |
weiße Kiesel streuen und auch ein paar Zypressen pflanzen lassen, um die | |
Familiengruft vom Rest des Friedhofs ein wenig abzugrenzen. Neben Pablo | |
Emilio Escobar Gaviria, so der volle Name des Al Capone Kolumbiens, sind | |
auch die Eltern, ein Bruder und Cousins hier bestattet. | |
„Auch Griselda Blanco, die als ‚schwarze Witwe‘in Kolumbiens Drogenszene | |
berühmt wurde, ist hier bestattet“, erläutert Paula Restrepo und deutet auf | |
ihr Grab. Sie zieht ihre Baseballkappe ins Gesicht. Hier will sie definitiv | |
nicht fotografiert werden, denn das hat schon einmal Ärger gegeben. Ihre | |
Vorgängerin, eine gute Freundin, wurde auf dem Friedhof bedroht, weil sie | |
allzu offen über das Leben, der hier bestatteten Kokain-Paten gesprochen | |
hatte. Die haben immer noch ihre Anhänger in Medellín, und die wollen | |
nichts hören über die weniger glamourösen Seiten des Patrón del Mal. | |
4 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Knut Henkel | |
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