# taz.de -- Héctor Abad über seinen neuen Roman: „Verpflichtung, optimistis… | |
> Der Vater des kolumbianischen Autors wurde von Rechten ermordet. Auf ein | |
> Ende der Gewalt hoffend, schöpft Abad in „La Oculta“ aus der eigenen | |
> Familienbiografie. | |
Bild: Seit 2012 finden Friedensgespräche zwischen der Farc und der kolumbianis… | |
taz.am wochenende: Herr Abad, Ihr Roman „La Oculta“ erzählt von der Familie | |
Angel. Deren Geschichte ist seit Generationen eng mit dem gleichnamigen | |
Landsitz, einer ehemaligen Kaffee-Finca in der kolumbianischen Provinz | |
Antioquia, verbunden. Wie biografisch ist dieser Roman? | |
Héctor Abad: Tatsächlich habe ich sehr wenig Fantasie. Eigentlich beruht | |
alles, was ich schreibe, auf meiner eigenen Erfahrung oder der Erinnerung | |
von Menschen, die ich kenne. „La Oculta“ handelt von einer Gegend, die mir | |
sehr vertraut ist. Dort in den Bergen der Tropen regnet es viel und es ist | |
sehr grün. Ich empfinde die Landschaft als etwas sehr Besonderes. Der Roman | |
ist geprägt von dem, was ich erlebt habe, aber er ist nicht wirklich | |
biografisch. Mein Großvater und meine Urgroßeltern stammen aus der Region, | |
aus dem Dorf Jerico. Wir haben diese Finca geerbt, die aber nicht „La | |
Oculta“, sondern „La Ines“ heißt. | |
Die Geschwister Pilar, Eva und Antonio, durch deren wechselnde Perspektiven | |
sich der Roman entwickelt, sind fiktive Figuren? | |
Ja, aber ich habe fünf Schwestern, die mir helfen, weibliche Figuren zu | |
konstruieren. Während des Schreibens höre ich ihre Stimmen – ich glaube | |
sowieso, dass ein Schriftsteller sehr große Ohren haben sollte. Doch | |
erzählt der Roman nicht ihre Geschichte, auch wenn eine Schwester | |
konservativer, eine andere liberaler und fortschrittlicher ist. Beide | |
Frauentypen existieren in Antioquia, in Kolumbien und in ganz | |
Lateinamerika. | |
Die Geschwister repräsentieren also unterschiedliche Lebensentwürfe? | |
Klar, sie stehen für die individuelle Suche nach dem Glück und auch für | |
verschiedene Formen von Beziehungen. So war mir wichtig, dass die männliche | |
Figur Antonio homosexuell ist, da das Thema von Land und Abstammung in | |
Antioquia sehr machistisch verhandelt wird. Ich wollte verhindern, dass man | |
sich dort mit dieser traditionell männlichen Sichtweise mein Buch zu eigen | |
macht. Deshalb ist Antonio anders und ihn verbindet eine große Liebe zu dem | |
Land seiner Familie. | |
In dem Roman ist Cobo, Antonios Vater, ein freigeistiger, sozial | |
engagierter Mediziner. Nach der Entführung seines Enkels von den Rebellen | |
der Farc stirbt er vor Kummer. Ihr eigener Vater, der berühmte Arzt und | |
Menschenrechtler Héctor Abad Gómez, wurde 1987 in Medellín allerdings von | |
rechten Paramilitärs ermordet. | |
Das stimmt, aber ich habe versucht mir vorzustellen, wie mein Vater | |
reagiert hätte, wenn die linke Guerilla, wie es in Kolumbien oft geschehen | |
ist, jemanden aus unserer Familie entführt hätte. Ich glaube, er wäre | |
ähnlich wie Cobo innerlich zerbrochen – hätte unendlichen Schmerz und | |
Ohnmacht empfunden. | |
Auf dem letztjährigen Literaturfestival in Managua sagten Sie: „Pablo | |
Escobar hat unser Leben in Kolumbien verändert. Er hat den Puls für die | |
Literatur vorgegeben.“ | |
Wegen des Drogenhandels, besonders dem von Pablo Escobar, ist die Gewalt in | |
Kolumbien auf ein verheerendes Maß angestiegen. Er machte Jugendliche zu | |
Auftragskillern und lehrte sie, schnelles Geld zu verdienen. Die | |
Paramilitärs bedienten sich der von Pablo Escobar ausgebildeten Sicarios. | |
Diese Entwicklung hat meinen Vater umgebracht und zu den schlimmsten Jahren | |
der Gewalt in Kolumbien geführt. | |
Wie hat diese Erfahrung Ihre eigene literarische Produktion beeinflusst? | |
Gerne hätte ich mich darauf beschränkt, weiter Bücher wie mein | |
„Kulinarisches Traktat für traurige Frauen“ („Tratado de culinaria para | |
mujeres tristes“) zu schreiben. Aber wenn die Gewalt in dein Haus kommt, | |
kannst du nicht einfach wegschauen. | |
Trotzdem hat es Sie Jahre gekostet, das Erlebte in Literatur zu verwandeln. | |
Zunächst habe ich geschrieben, um zu vergessen. Dieses „Traktat“ | |
beispielsweise entstand für meine Mutter und meine Schwestern. Als ich | |
Jahre später jedoch feststellte, dass man anfing, meinen Vater in Medellín | |
zu vergessen, begann ich das Buch „El olvido que seremos“ („Brief an einen | |
Schatten“) über ihn zu schreiben. Auch „La Oculta“ ist in gewisser Weise | |
eine literarische Erinnerung – an eine Region, ihre Geschichte, an | |
Menschen, die einen Traum und Ideale hatten, an ein Paradies, das durch den | |
Krieg zerstörte wurde und das heute mehr denn je durch die Spekulationen | |
des Kapitalismus bedroht ist. | |
In „La Oculta“ erforscht Antonio obsessiv die Geschichte seiner Ahnen. | |
Dieses historische Material fügt dem Roman eine weitere Erzählebene über | |
die Herkunft der Familie und die Gründung Jericos hinzu. „Sich erinnern | |
bedeutet ja gewissermaßen, die Gespenster in die Arme zu schließen, die | |
unser jetziges Leben möglich gemacht haben“, sagt Antonio an einer Stelle. | |
Wer sind diese Gespenster der Familie Angel? | |
Antonio entdeckt, dass seine Vorfahren konvertierte Juden aus Spanien | |
waren, die sich in Antioquia niederließen. Er weiß, dass zur selben Zeit in | |
Amerika schreckliche Verbrechen begangen wurden an der indigenen | |
Bevölkerung und an den afrikanischen Sklaven. Trotzdem idealisiert er die | |
Vergangenheit. Er entdeckt, dass es dort Menschen gab, die ein egalitäres | |
Projekt in einer Welt im Umbruch verfolgt haben, ganz im Geiste von 1848. | |
Auch wenn die Geschichte vielleicht nicht ganz so verlaufen ist, tröstet | |
ihn diese Vorstellung und lässt ihn erkennen, wer er selber ist. | |
Seit dem Jahr 2012 finden Friedensgespräche zwischen der kolumbianischen | |
Regierung und der Farc statt – zuerst in Oslo, aktuell in Havanna – bislang | |
noch ohne Einigung. Was erhoffen Sie? | |
Ich hoffe, dass dieses Friedensabkommen unterzeichnet wird. Ich habe die | |
Verpflichtung, optimistisch zu sein und Optimismus in meinem Land zu | |
verbreiten – vor allem, weil eine Bewegung innerhalb der extremen Rechten | |
in Kolumbien den Verhandlungen und einem Friedensvertrag absolut feindlich | |
gegenübersteht. Im Jahr 1985 wäre es schon einmal fast zu einer Einigung | |
mit der Guerilla gekommen. Doch die extreme Rechte hat die Partei der | |
Linken, die der Farc nahestehende UP, vernichtet. Das Land verfiel wieder | |
in die alte Kriegslogik. Es folgten weitere dreißig Jahre mit Entführungen, | |
Massakern, Verschwundenen und Toten. Nun sind wir erneut an einem | |
Scheideweg. | |
Was sind die Argumente der Gegner eines Friedensvertrags? | |
Jetzt sagen sie, dieses Abkommen würde zu breiter Strafbefreiung führen, | |
man dürfe der Guerilla die Verbrechen nicht verzeihen. Doch der | |
Friedensprozess mit den Paramilitärs hat auf der anderen Seite bereits | |
stattgefunden. 28.000 wurden demobilisiert. 27.700 von ihnen kamen frei – | |
totale Straflosigkeit also, auch für schrecklichste Verbrechen. Es gibt | |
keine Möglichkeit, einen Krieg zu beenden ohne Strafbefreiung. Man kann | |
einfach nicht alle bestrafen. | |
In jener Nacht, als Ihre Figur der Eva in „La Oculta“ von Banditen | |
überfallen wird, findet sie zuvor zufällig die Notiz ihres verstorbenen | |
Vaters in einem Buch: „So sollte Literatur sein: randvoll mit Handlung, | |
sodass kein Platz für Klischees oder sentimentale Abschweifungen bleibt. | |
[…] Die Literatur sollte wieder so sein wie die Bibel oder Homer – | |
Handlung, Spannung, Bilder und dazu nur eine Prise Gedankenspielereien.“ | |
Beschreibt dieses Zitat auch Ihre eigenen Vorstellungen von einem guten | |
Roman? | |
Ich fand diese Aufzeichnung in einem meiner Notizbücher. Wer der Autor ist, | |
weiß ich nicht mehr. Aber ich bin ziemlich einverstanden damit. Wenn die | |
Form oder die psychologische Konstruktion zu wichtig wird, verliert die | |
Literatur etwas, das sehr schön, fast kindlich ist – dir etwas zu erzählen, | |
so wie es ein Bruder oder eine Mutter tut, mit einem guten Rhythmus und der | |
richtigen Dosis an Information. Mir gefallen Geschichten. | |
14 Jun 2016 | |
## AUTOREN | |
Eva-Christina Meier | |
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