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# taz.de -- Literatur und Verbrechen: Emilio Renzi fühlt sich fremd
> Ricardo Piglias packender Roman „Munk“ handelt vom Mord an einer
> brillanten Wissenschaftlerin. Die Story entwickelt schnell eine
> Sogwirkung.
Bild: Die Nassau Hall der Uni Princeton, Vorbild für die Uni im Buch.
Der argentinische Schriftsteller Ricardo Piglia lehrte bis zu seiner
Pensionierung 2010 Literatur an der renommierten US-amerikanischen
Universität Princeton. 2011 kehrte er dauerhaft nach Buenos Aires zurück
und schrieb „El camino de Ida“.
Dieser Roman, der unter dem Titel „Munk“ nun in deutscher Übersetzung
vorliegt, geht mit deutlich autobiografischen Zügen dem rätselhaften Tod
einer außergewöhnlichen Literaturprofessorin an einer Elite-Universität in
der Nähe New Yorks nach.
In einer akuten Lebenskrise nimmt Emilio Renzi – Alter Ego des Autors in
all seinen Büchern – die Einladung der Professorin Ida Brown dankbar an,
als Gastdozent an der Taylor University ein Seminar über den
argentinisch-britischen Schriftsteller und Naturbeobachter William Henry
Hudson zu geben.
Renzi kommt als lateinamerikanischer Literaturwissenschaftler nach New
Jersey – nicht als Exilierter oder illegaler Migrant. In dieser Situation
nimmt er sein Umfeld mit Distanz, aber auch einer Mischung aus sprachlicher
Verwirrung und Verlorenheit intensiv wahr und versucht es anhand ihm
bekannter Koordinaten zu interpretieren.
## Hundshai im Aquarium
An der Universität ist er schnell integriert. Don D’Amato, ausgewiesener
Melville-Spezialist und Dekan der Universität, lädt ihn auf einen Brandy
und eine Liefer-Pizza nach Hause ein, um über Hudson und Melville zu
diskutieren. „Ich weiß, dass mir die nordamerikanischen Scholars, sobald
ich auf meinen südamerikanischen Lieblingsschriftsteller [Anm. d. A.:
Domingo F. Sarmiento] zu sprechen komme, jedes Mal mit höflichem
Desinteresse begegnen, als würde ich ihnen von einer Art patriotischer
Version von Salgari oder von Büchern im Stil von Onkel Toms Hütte
erzählen.“ Am Ende des Abends führt D’Amato Renzi filmreif hinab in den
Keller seines Hauses und überrascht ihn dort mit einem riesigen Aquarium,
in dem vor der Außenwelt verborgen ein weißer Hundshai durchs Wasser
gleitet.
Aus Renzis Perspektive erzählt, entwickelt der Roman rasch eine Sogwirkung.
Ida Brown, die brillante und attraktive Wissenschaftlerin, beginnt eine
heimliche Motel-Affäre mit dem Argentinier. Kurze Zeit später wird sie
unter ungeklärten Umständen tot in ihrem Auto aufgefunden. Der friedliche
Campus wird zum Tatort. Emilio Renzi beginnt zu ermitteln – unterstützt von
einem Privatdetektiv und observiert vom FBI.
Besonders hilfreich sind ihm dabei seine eigenen Erfahrungen: „Ich komme
aus Argentinien. Ich weiß, wie das läuft. Die eine Bevölkerungshälfte wird
überwacht, die andere arbeitet für den Geheimdienst.“ Doch eine
kriminalistische Lösung des Falls wird es am Ende nicht geben. Piglia
bedient sich dieses amerikanischen Genres vor allem, um eine Geschichte mit
ungewissem Ausgang zu erzählen. Gleichzeitig bietet das akademische Setting
dieses „Krimis“ dem Autor alle Möglichkeiten zu einem komprimierten
Wechselspiel zwischen biografischer Erfahrung und einem Leben mit
Literatur.
Piglia zählt zur ersten Schriftstellergeneration Argentiniens, die
Frankreich als kulturelle Referenz der Intellektuellen aufgab und sich
stattdessen für die Literatur der Beat Generation, das Kino und den Jazz
der USA begeisterte. In einem Interview mit der spanischen Tageszeitung El
País schildert der Schriftsteller aber auch, wie seine langjährigen
Beobachtungen des Alltags der USA als Fragmente in den Roman eingeflossen
seien. So gebe es ein Bedürfnis der Gesellschaft, Gewalt stets zu
individualisieren und somit zu psychopathologisieren.
## Keine Salonlinke
So wundert sich der Erzähler über einen einzelnen Demonstranten: „In diesem
Land ist alles individualisiert, dachte ich, hier gibt es keine sozialen
Konflikte oder gewerkschaftliche Auseinandersetzung. (…) Deshalb steigen so
viele, die ungerecht behandelt worden sind, mit einer automatischen
Schusswaffe und einer Handgranate auf das Gebäude ihres früheren
Arbeitgebers und knallen jeden ab, der zufällig vorbeikommt. Den USA könnte
ein bisschen Peronismus nicht schaden, dachte ich schmunzelnd, auf diese
Weise würde sich die Zahl der von rebellierenden Individuen verübten
Massenmorde deutlich verringern.“
Ida Brown war keine akademische Salonlinke. Sie erinnert ihn an die Frauen,
die er in den siebziger Jahren in Argentinien gekannt hatte und die mit der
Guerilla sympathisierten. Nach ihrem Tod findet Renzi Austausch und
Anteilnahme bei seiner Nachbarin Nina Andropowa, einer älteren russischen
Intellektuellen.
Die emeritierte Tolstoi-Biografin war Stalins Terror entkommen und musste
nach dem Krieg in Frankreich fassungslos die Rechtfertigungen sowjetischer
Verbrechen durch Sartre und die französische Linke erleben, bevor sie 1950
in die USA emigrierte. „,Es war damals schwer, links zu sein und das ist es
immer noch‘, sagte Nina. ‚Aber ich bin Russin, mein Lieber, und ich könnte
niemals Reformist sein …‘“. Mit diesem zweiten Teil fügt Piglia dem Roman
ein weiteres historisches Fragment aus der widersprüchlichen Geschichte der
Linken hinzu.
Weiter unter besonderer Beobachtung des FBI, verfolgt Renzi bald hartnäckig
die Spur eines Briefbombenattentäters. Dessen Anschläge scheinen sich
ausschließlich gegen Universitätsprofessoren und Wissenschaftler zu
richten. Den entscheidenden Hinweis aber, der ihn schließlich zu Thomas
Munk führen soll, findet er ausgerechnet in Idas Seminaraufzeichnungen über
den Schriftsteller Joseph Conrad. Posthum gibt sie damit den entscheidenden
Hinweis zu dessen Identität.
## Ein radikaler Don Quijote
Denn Conrads Fiktion lieferte dem Täter die Vorlage zu seinen Verbrechen.
Renzi erkennt in Munks Begeisterung für den Autor einen radikalen Don
Quijote, „der erst völlig gebannt Romane verschlingt und dann loszieht, um
sie nachzuerleben“. Doch hinter Piglias fiktiven Figur des Attentäters
entdeckt man leicht und seltsam ernüchtert 1:1 die reale Person Theodore
Kaczynski, des sogenannten Unabombers.
Der hochbegabte Harvardabsolvent und Mathematikprofessor hatte zwanzig
Jahre lang zurückgezogen in den Wäldern gelebt, bevor er inspiriert von
Conrads Roman „Der Geheimagent“ zum einzelgängerischen Terroristen wurde.
Piglia übernimmt diese Realität in seinem Roman, „weil diese Dinge sehr
schwer zu erfinden sind.“
Nach dieser Episode verändert sich das Erzähltempo und Renzi rekapituliert
nun gelassen die Ereignisse. Auf seiner Reise an die Westküste der
Vereinigten Staaten beobachtet der Argentinier seine Umgebung mit der ihm
eigenen Distanz – vielleicht nun etwas weniger verloren.
Im Gefängnis von Sacramento will er Munk unbedingt über dessen Verbindung
zu Ida befragen. Dazu sagt der Autor selbst in einem Interview: „Mir
gefällt es, wenn es im Roman eine Reise gibt und alle Rätsel der Geschichte
in eine Unterhaltung münden, in der sich nichts aufklärt.“ Am Ende landet
Piglias Alter Ego auf dem Flughafen Ezeiza in Buenos Aires. Und so ist
„Munk“ tatsächlich auch ein Roman über die Rückkehr eines meisterhaften
Erzählers nach Argentinien.
22 Jul 2015
## AUTOREN
Eva-Christina Meier
## TAGS
Literatur
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