# taz.de -- Literaturfestival in Schleswig-Holstein: Langsamer Lückenschluss | |
> Autoren aus Dänemark in der schleswig-holsteinischen Provinz? Es ist | |
> Literatursommer! Und der kommt beinahe ohne nordisches Krimifutter. | |
Bild: Nachbarschaft: Beim Literatursommer treffen sich Dänen und Deutsche | |
HAMBURG taz | Es ging schon nach China und in die Türkei. Der | |
Literaturproduktion Polens und Russlands nahm man sich an, jener in | |
Finnland, Norwegen, auch Italien oder Japan – jeweils einen Sommer lang. Im | |
vergangenen Jahr stellt der „Literatursommer“ der schleswig-holsteinischen | |
Literaturhäuser vor, was in Island so alles geschrieben wird, 2013 war es | |
auf einen Schlag gleich um drei Länder gegangen: Estland, Lettland und | |
Litauen. | |
Diese Beschäftigung, dieses Lesen und Vorgelesen-bekommen findet weit | |
verstreut über ganz Schleswig Holstein statt; nicht nur in Lübeck und Kiel, | |
sondern vornehmlich an Orten, die der Großstädter in der Regel nur vom | |
Durchfahren her kennt. So wie vor 20 Jahren, als erstmals die Österreicher | |
kamen: Raoul Schrott und Franzobel und Josef Haslinger lasen in Kiel und | |
Rendsburg, Husum und Friedrichstadt. | |
Dieses Jahr ist Dänemark dran und das geschieht dann doch vergleichsweise | |
spät. Immerhin ist das Land unmittelbar benachbart, es gibt vielfältige | |
kulturelle Beziehungen; so schlossen sich etwa vor kurzem diverse der | |
modernen Kunst verpflichtete Museen und Kunsthäuser beiderseits der Grenze | |
zu einem Verbund zusammen. | |
## 60 Jahre Nachbarschaft | |
Dass sich der Blick der Veranstalter nun auf diese eigentlich so nahe | |
liegende Nachbarschaft richtet, hat aber einen anderen Grund, einen | |
handfest-historischen Grund: In diesem Jahr jährt sich zum 60. Mal die | |
Bonn-Kopenhagener Erklärung. | |
Darin wurden seinerzeit die zuvor doch lange schwierigen Beziehungen | |
zwischen Dänemark und Deutschland geklärt, auf höchster Ebene und getragen | |
vom Ideal einer gerade auch persönlichen Aussöhnung, wie es die | |
bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft prägte. In den sogenannten | |
Aufbaujahren fuhren die Deutschen bald ja nicht nur nach Rimini, sondern | |
auch in die anfangs noch spärlich ausgestatteten Hütten am Ringköping | |
Fjord, in Skagen oder auf den Inseln. | |
Nicht zuletzt sprachen die unterzeichnenden Regierungen damals den | |
jeweiligen Minderheiten im anderen Land umfangreiche politische Rechte zu. | |
Ebenso wurde die Förderung der jeweils anderen Kultur geregelt, auch mit | |
dem Ziel, die zuvor so spannungsgeprägte Grenzregion zu einer der Begegnung | |
werden zu lassen. | |
Mit auch ganz praktischen Folgen: „Seit dieser Erklärung können kulturelle | |
Einrichtungen in Schleswig Holstein selbstverständlich Mittel aus dem | |
dänischen Kulturfond beantragen“, sagt Wolfgang Sandfuchs, Leiter des | |
Literaturhauses in Kiel und also Ausrichter des Literatursommers. | |
„Danach ist es erst losgegangen, dass man sich gegenseitig Bücher, Dichter | |
und auch Musikgruppen geschickt hat.“ Über den diesjährigen Literatursommer | |
sagt er: „Mit Dänemark schließen wir langsam die nordische Lücke“ – es | |
fehlt nur noch Schweden. | |
Und wer kommt da nun in den kommenden Wochen? Auffällig ist, dass die ganz | |
großen Namen fehlen: Weder der Krimi-Vielschreiber Jussi Adler-Olson tritt | |
auf noch Peter Hoeg, der einst mit seinem Fräulein Smilla für einen kurzen | |
dänisch-deutschen Literaturfrühling sorgte. Aber Lesungen vermeintlicher | |
Bücherstars sind ja auch meist enttäuschend routinierte, kaum getarnte | |
Werbeveranstaltungen, in denen Nähe zum Publikum nicht aufkommen mag. | |
Stattdessen darf man sich uneingeschränkt freuen auf die Lesungen mit Peter | |
Adolphsen ab dem 25. August ... Moment: Peter wer? Auch Literaturhausleiter | |
Sandfuchs gibt zu, dass ihm dieser Autor zuvor unbekannt gewesen sei. „Die | |
dänische Kulturstiftung empfahl ihn mir“, sagt er, „und bei dem, was die | |
Leute über ihn erzählten, dachte ich sofort: Den Mann muss ich | |
kennenlernen.“ | |
Zunächst in Dänemark, dann in den USA aufgewachsen, lieferte Adolphsen seit | |
2012 zwei schmale, hochkonzentrierte Bücher ab: „Brummstein“ erzählt anha… | |
eines radioaktiven Steinchens von der deutschen Geschichte und lässt dabei | |
einen Berliner Anarchisten, ein jüdisches Mädchen und eine von Joseph Beuys | |
inspirierte Künstlerin auftreten. | |
„Das Herz des Urpferdes“ wiederum erzählt von einem Urpferdchen, dessen | |
Kadaver über die Jahrmillionen zu einem Tropfen Erdöl destilliert, der in | |
Benzin umgewandelt, ein Rußpartikelchen hinterlässt, dass wiederum von | |
einer jungen Amerikanerin eingeatmet wird, die daraufhin unheilbar an | |
Lungenkrebs erkrankt – solche Geschichten erzählt dieser Adolphsen. | |
Beide Texte wurden hierzulande von der Kritik zwar positiv besprochen, | |
gingen aber von den Verkaufszahlen her völlig unter und sind heute nur noch | |
schwer erhältlich. | |
## Nicht die ganz großen Namen | |
Empfehlenswert ist auch ein Besuch bei den Auftritten von Kim Leine (ab 10. | |
August): Er wuchs bei seiner Mutter in Norwegen als Zeuge Jehovas auf, | |
wurde später von seinem Vater sexuell missbraucht, was zu einer Flucht in | |
die Sucht führte, der er schreibend zu entkommen sucht – Thema seines | |
Debütromans „Kalak“, den er beim Kieler Festival des Debütromans vorstell… | |
und der bis heute nicht übersetzt ist. | |
„Es war damals gar nicht so einfach, mit ihm überhaupt ins Gespräch zu | |
kommen“, so Sandfuchs. „Doch er hat sich in puncto Außendarstellung sehr | |
geändert.“ Leines zweiter Roman „Die Untreue der Grönländer“ war dann … | |
in Deutschland ein kommerziell ordentlicher Erfolg: Darin lässt er seine | |
wüsten Helden wüste Abenteuer in einem wüsten Land erleben: in Grönland. | |
Jetzt liest Leine aus dem Roman „Ewigkeitsfjord“. | |
Claus Høxbroe (ab 18. August) ist eine Empfehlung seines Übersetzers Tobias | |
Koch, der in Kiel lebt und arbeitet: Den Kopenhagener Høxbroe kann man grob | |
der Tradition der Beatniks oder mehr noch der Spoken Word Poetry zuordnen. | |
Wie er sich anhört, dokumentieren allerlei Youtube-Filme. | |
In den vergangenen Jahren hat er neben sieben knappen Gedichtbänden auch | |
noch drei Schallplatten vorgelegt, auf denen das Gesprochene recht sanft am | |
Klavier begleitet wird von einem gewissen Oscar Gilbert: Der kommt jetzt | |
sinnvollerweise mit auf die kleine Tournee durchs ländliche | |
Schleswig-Holstein. | |
Vergleichsweise leichtgängig sind die Romane von Anna Grue (zu sehen und zu | |
hören ab 2. August), die mit ihrem Helden, dem glatzköpfigen | |
Privatermittler Dan Sommerdahl, an die Tradition der skandinavischen | |
Serienkrimis anknüpft: Sommerdahl muss in in zehn Bänden ebenso viele Fälle | |
aufklären; die Hälfte ist schon geschafft. | |
Bleibt noch Hanne Vibeke-Holst, deren Lesung am kommenden Dienstag in | |
Dersau am Großen Plöner See den Auftakt des diesjährigen Literatursommers | |
bildet. Ihr jüngster Familienroman „Das Mädchen aus Stockholm“ erzählt v… | |
einer schwierigen Geschwisterbeziehung, die in den Jahren der deutschen | |
Besatzung Dänemarks ihren Anfang nimmt. | |
## Die Freuden der Provinz | |
Unglücklich ist Wolfgang Sandfuchs wegen des durchaus heterogenen Programms | |
keinesfalls: „Manchmal ergibt sich ein thematischer Faden, manchmal aber | |
auch nicht“, sagt er. „Im Falle der aktuellen dänischen Literatur wäre es | |
nur mittels des Krimis gegangen – und dazu hatten wir keine Lust.“ | |
Und so genießt er die Freiheit des Literaturveranstalters in der | |
sogenannten Provinz, der sich eines treuen Publikums gewiss sein kann: „Ich | |
darf bunt sein, ich darf einfach mixen. Mir macht keiner Vorschriften, es | |
muss nur einigermaßen mit dem Geld stimmen.“ | |
Und er kann noch eine nette Geschichte erzählen: Ganz unabhängig vom | |
kommenden Literatursommer hatte er jüngst den dänischen Autor Carsten | |
Jensen mit dem Roman „Die Ertrunkenen“ zu Gast – der vor immerhin sieben | |
Jahren erschienen ist. | |
„Da habe ich die Hütte voll“, erzählt der Literaturhauschef. „Da habe i… | |
einen Autoren, der wirklich Lust hat zu erzählen, und es wird ein Abend, | |
von dem man nur träumt, und 100 Leute gehen glücklich nach Hause.“ | |
25 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Frank Keil | |
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