# taz.de -- Trends in der nordeuropäischen Literatur: „Kolonialismus-Debatte… | |
> Rückbesinnung auf Götter und Romane über dänischen Kolonialismus: | |
> Übersetzerin Gabriele Haefs über nordeuropäische Literatur. | |
Bild: Kollaborateur Vidkun Quisling mit Heinrich Himmler und anderen Nazigröß… | |
taz: Frau Haefs, wie ist der Abend mit „New Voices“ zustande gekommen, den | |
Sie bei den Nordischen Literaturtagen in Hamburg vorstellen? | |
Gabriele Haefs: Diese Nachwuchsautoren hat Norla, eine staatliche Stiftung | |
zur Vermarktung norwegischer Literatur im Ausland, ausgesucht. Die Idee | |
ist, noch während der Literaturtage deutsche Verlage für bislang | |
unübersetzte Autoren zu finden. | |
Haben Sie eine Lieblings- „Voice“? | |
Sehr gut finde ich Nina Lykkes „Aufruhr in mittleren Jahren“ über eine | |
Mittfünfzigerin, die auflebt, nachdem ihr Mann eine Jüngere geschwängert | |
hat. Parallel gerät die junge Rivalin in genau jenes öde Leben hinein, das | |
die Ex-Frau hinter sich ließ. Der Roman fängt harmlos an und wird immer | |
süffisanter. | |
Während Andreas Tjernshaugens „Leben der Meisen“ eher | |
populärwissenschaftlich ist. Und Maja Lunde schrieb „Die Geschichte der | |
Bienen“ … | |
Ja, es gibt einen Trend, auch Sachbücher in die Lesetage hineinzunehmen. | |
Wobei Lundes „Leben der Bienen“ aber eine hoch literarische Dystopie ist. | |
Der Roman spielt im China der Zukunft. Die Bienen sind ausgestorben, und | |
alle Kinder werden gezwungen, Blüten von Hand zu bestäuben. Diese Mischung | |
aus Sachbuch und Belletristik liegt in Nordeuropa zurzeit im Trend. | |
Wohingegen der Isländer Einar Kárason in „Die Sturlungen“ die raue | |
Wikingerzeit aufruft. | |
Ja – wobei immer durchscheint, dass sich die Menschen nicht grundlegend | |
ändern. Ob ich als Wikingerhäuptling die Macht an mich reiße oder | |
heutzutage als Präsident … Kárason ist übrigens kein Einzelfall. | |
Tatsächlich findet in den nordeuropäischen Gesellschaften gerade eine | |
Rückbesinnung auf alte Gottheiten statt. | |
Zeugt das von Nationalismus? | |
Ich glaube nicht. Das Christentum ist einfach ein bisschen „out“ – wie hi… | |
auch –, und man sucht andere, frühere Wurzeln. Und sicher, es gibt ein paar | |
Wikingerverbände, die angeblich alte Traditionen pflegen. Die meisten hegen | |
aber einfach ein Interesse an der eigenen Geschichte. | |
Und wie haben die nordischen Länder NS-Zeit und Kollaboration literarisch | |
verarbeitet? | |
Nazizeit und Deutschenfeindlichkeit werden ungebrochen wachgehalten, in | |
Krimis zum Beispiel. Und was die Kollaboration betrifft: Sehr lange hielt | |
sich der Mythos, dass alle im Widerstand gewesen seien. Inzwischen wird | |
auch öffentlich zugegeben, dass das vielleicht doch nicht alle waren. Vor | |
wenigen Tagen erschien zum Beispiel ein Sachbuch über den Bischof von | |
Norwegens faschistischem Ministerpräsidenten Vidkun Quisling, der bis 1945 | |
regierte. Das ist das erste Buch über die stark nazifizierte norwegische | |
Staatskirche überhaupt. | |
Und wie steht es um die Deutschenfeindlichkeit der 1950er- Jahre, über die | |
der Däne Knud Romer schreibt? | |
Sie wird meist totgeschwiegen; Romer, der dafür ja auch angefeindet wurde, | |
ist ein Einzelfall. Die Besatzungskinder, in den 1950er-, 1960er-Jahren | |
stark ausgegrenzt, sind dagegen schon länger Thema, etwa in norwegischen | |
Romanen. | |
Der Däne Mich Vraa ist in seinem Roman „Die Hoffnung“ sogar bis zum | |
Kolonialismus zurückgegangen. | |
Ja. Wussten Sie, dass Dänemark das letzte europäische Land war, das den | |
Sklavenhandel beendete? Die dänische Regierung hat erst um 1850, kurz vor | |
dem amerikanischen Bürgerkrieg, in ihren karibischen Kolonien die Sklaverei | |
abgeschafft. Sie waren übrigens nicht die einzigen Profiteure: Schweden | |
verdiente indirekt über den Handel mit. Auch Norwegen, bis 1805 unter | |
dänischer Herrschaft, hat über seine Häfen mitverdient. Dieses Thema gerät | |
aber gerade erst ins öffentliche Bewusstsein. In Dänemark etwa begann diese | |
Debatte vor einem Jahr. | |
Warum jetzt? | |
Anlass waren Recherchereisen von Nachfahren jener Menschen, die als Sklaven | |
auf den dänischen karibischen Kolonien litten. Diese Nachkommen suchten in | |
Dänemark nach Spuren ihrer Vorfahren und der Täter und haben etliche Dänen | |
befragt. | |
Wie haben sie reagiert? | |
Ambivalent: Einerseits waren die Befragten stolz auf ihr Land, seine | |
Geschichte und auf den Widerstand ihrer Vorfahren gegen die Nazis. Beim | |
Sklavenhandel beriefen sich dieselben Dänen plötzlich nicht mehr auf ihre | |
Vorfahren und sagten: Das geht uns nichts an, das waren wir nicht, das ist | |
lange her. Angesichts dieses Widerspruchs war es nur noch eine Frage der | |
Zeit, bis sich Autoren des Themas annahmen. | |
Wächst auch der Anteil migrantischer Literatur in Nordeuropa? | |
Ja. Bedeutend ist zum Beispiel der 20-jährige, palästinensischstämmige Däne | |
Yahya Hassan, der sehr gute Gedichte schreibt und sich mit der | |
migrantischen Szene angelegt hat. Und das nicht, weil er gegen den Islam | |
polemisiert, sondern gegen die Verhältnisse in den Familien: die Macht des | |
Vaters, unter der nicht nur Frauen und Töchter leiden, sondern die auch die | |
Söhne kaputtmacht. Seither wird er rund um die Uhr bewacht. | |
Und wie steht es seit Einzug der Rechten etwa ins norwegische Parlament um | |
die Arbeitsbedingungen für Autoren? | |
Es könnte problematisch werden. Wenn Parteien, denen Kultur nicht wichtig | |
ist, in der Regierung sitzen und Macht über die Fördergelder haben, | |
bekommen Kulturschaffende im Zweifel weniger als vorher. | |
Trotzdem verdient ein Autor in Norwegen immer noch mehr als in Deutschland. | |
Das hängt davon ab, wie viel er verkauft. Aber es stimmt schon, die | |
Tantiemen-Sätze sind höher als in Deutschland, und dass man leichter an | |
Stipendien und Beihilfen herankommt. Die norwegische Buchpreisbindung | |
existiert aber nur auf dem Papier: Von einem Stichtag an kann jeder | |
Buchladen seine Bestände nach Gutdünken heruntersetzen, ohne Verlage oder | |
Autoren zu informieren. | |
Nordische Literaturtage: Mo, 27. 11., bis Do, 30. 11., Hamburg, | |
Literaturhaus | |
25 Nov 2017 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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