# taz.de -- Belebung eines Kieler Viertels: Kunst in der ausgeräumten Filiale | |
> Draußen wird viel getrunken, drinnen gibt es Kunst: In einem früheren | |
> Schlecker-Markt in Kiel Gaarden werden seit drei Jahren zeitgenössische | |
> Arbeiten ausgestellt. | |
Bild: Fundstücke aus Norwegen vor Gaardener Straßenszenerie. die Bodenarbeit … | |
KIEL taz | „Sach’ mal, was ist denn das hier für ein Quatsch?“ Es kann | |
vorkommen, dass die Künstlerin oder der Künstler, der gerade Aufsicht hat, | |
überraschend Besuch bekommt: Die Tür öffnet sich, jemand herein und fragt. | |
Will wissen, was das sein soll, was da an den Wänden hängt, auf einem | |
Sockel steht oder auf einem Monitor zu sehen ist – und ob man ihn, den | |
überraschenden Besucher, eigentlich verarschen will. Dann sollte man etwas | |
sagen können, seine Kunst erklären, einigermaßen sattelfest. Und das | |
möglichst auch noch so, dass man das Gesagte auch versteht. | |
„Die Niedrigschwelligkeit ist bei uns sehr hoch“, sagt Jonas Lindner, 1. | |
Vorsitzender des Vereins „Künstler 34 in Kiel-Gaarden“, und muss erst mal | |
lachen. Wenn Kurator Detlef Schlagheck dann von der „Szene“ spricht, meint | |
er damit nicht wie üblich die Kunstszene, sondern eine ortsansässige | |
Gemeinschaft von zumindest zeitweise Verlorenen; Menschen, denen es | |
sichtbar an Geld fehlt und die sich schon morgens an einer Flasche Bier | |
festhalten. „Ganz falsch wäre es gewesen, man wäre hier wie ein Ufo | |
gelandet, um Kunst zu zeigen“, sagt Schlagheck. „Man muss sich für die | |
Leute interessieren, man muss hier agieren wollen.“ Er weist mit einer | |
Armbewegung nach draußen: „Die Leute waren zuerst da, es ist zuerst ihr | |
Platz.“ | |
## Auffällig viele Spielhallen | |
Seit 2013 sind aber auch die Künstler hier, Elisabethstraße 68, direkt am | |
Vinetaplatz, Kiel-Gaarden. Man könnte mühelos bedrückende Zahlen | |
herunterrattern: die der Arbeitslosen, der Hartz-IV-Bezieher, der | |
Aufstocker. Die Zahl der Schulabbrecher auch und die hohe Zahl derjenigen, | |
die hier regelmäßig nicht zur Wahl gehen, egal ob Kommunal-, Land- oder | |
Bundestagswahl. Man könnte an den Tatort „Borowski und die Kinder von | |
Gaarden“ aus dem vergangenen Jahr erinnern. Da bekam die | |
Sonntagabendgesellschaft ein Szenario aus Gewalt und Teilnahmslosigkeit | |
geboten, in dem schon die Heranwachsenden des Viertels in den Abgrund | |
gerissen würden. | |
Man kann aber auch einfach ein paar Schritte gehen und sich umschauen. Dann | |
wird man einen Stadtteil erleben, mit Ecken und Kanten, geprägt von | |
charmanter Altbaustruktur, also noch nicht seelenlos durchsaniert. Zugleich | |
könnte man zwischen den kleinen Geschäften auffällig viele Spielhallen | |
bemerken, mit den üblichen zugeklebten Scheiben. Und dann stolpert man | |
vielleicht über den Aufsteller des örtlichen Beerdigungsinstituts – mit dem | |
Hinweis „Sterbegeldversicherung geschützt vor den Sozialbehörden“. Wenn a… | |
dem Vinetaplatz Wochenmarkt ist, sitzen daneben Frauen auf dem bloßen | |
Boden, kaum noch brauchbaren Trödel vor sich – vielleicht greift ja doch | |
irgendjemand zu. Jeder Euro zählt. | |
Unübersehbar: Am Beginn der Elisabethstraße, Ecke Preetzer Straße, hat die | |
offene Drogenszene ihr Zuhause, links und rechts die dazugehörigen | |
Dienstleister: Arztpraxen mit Suchtschwerpunkt und mobile Hilfsdienste. | |
„Einmal im Jahr rückt die Polizei an“, erzählt Lindner, „dann ist Razzi… | |
dann werden jede Menge Platzverweise erteilt, die werden in den | |
darauffolgenden Tagen auch überprüft und durchgesetzt, aber dann beruhigt | |
sich wieder alles und es geht weiter wie bisher – bis zum nächsten Jahr.“ | |
„Das Schöne an dem Viertel ist, dass das Leben auf der Straße stattfindet�… | |
sagt Schlagheck. „Wobei ich den Sozialromantikern sagen muss, dass es hier | |
keine bunte, harmonische Multikultigesellschaft gibt. Die verschiedenen | |
Gruppen leben weitgehend nebeneinander her.“ Beide kennen sich aus, sie | |
wohnen in Gaarden und das nicht erst seit eben. Beide sagen, man gehe „hier | |
miteinander um, wie normale Menschen miteinander umgehen sollten“. | |
Solchen normalen Menschen bieten sie seit inzwischen drei Jahren | |
zeitgenössische Kunst an: in einem ehemaligen Schlecker-Markt. Den Raum | |
strukturieren mehrere Säulen, was Schlagheck ihn immer wieder an eine | |
Kirche erinnert, sagt er. Die Drogerie-Filiale stand erst mal ein Jahr lang | |
leer, nachdem sich Anfang 2012 das Imperium des Anton Schlecker in Luft und | |
Schulden auflöste und die sogenannten Schlecker-Frauen, also die | |
größtenteils weibliche Belegschaft, einen kurzen Frühling der | |
Aufmerksamkeit erlebten. Ein Jahr lang wurde versucht einen neuen Mieter zu | |
finden, der irgend etwas anböte, das die Leute hier brauchen – und für das | |
sie sogar zahlen würden. Es fand sich keiner. | |
Und dann? Man überlegt sich was mit Kunst, fragt herum, findet schließlich | |
wen, der gerade nicht klassisch betriebswirtschaftlich denkt, dafür | |
wiederum andere Leute kennt, die auch so ticken. „Ich war am Anfang eher | |
skeptisch, als mich Jonas ansprach“, erzählt Schlagheck, der nicht nur | |
Kurator ist, sondern auch selbst Künstler, Bildhauer. „Dann haben wir ganz | |
aktionistisch losgelegt und es folgte Ausstellung auf Ausstellung.“ Ein | |
wenig erleichtert es den beiden das Engagement, dass die Miete recht | |
günstig ausfällt und die örtliche Muthesisus-Kunsthochschule etwas | |
zuschießt. Vor allem aber haben sie es gegen jeden Trend geschafft, bei der | |
Lokalpolitik eine dauerhafte, institutionelle Förderung durchzusetzen. „Man | |
darf jetzt ruhig mal die SPD loben“, sagt Lindner. | |
Jedenfalls: Die Kunst kam nach Gaarden und sie blieb. Wobei eines ganz | |
wichtig ist: die Nicht-Umarmungsstrategie der Macher. „Wir sind keine | |
Sozialarbeiter oder Pädagogen“, sagt Schlagheck, „sondern wir präsentieren | |
als ausstellende Künstler und Kuratoren Kunst – mit dem Wunsch, dass die | |
was mit dem Stadtteil zu tun hat.“ Genau genommen hofft man darauf, denn | |
vorschreiben tut man das den Künstlern natürlich nicht. Und wenn, dann gehe | |
das am besten mit Ausstellungen mit „Laborcharakter“: Wo also nicht einfach | |
Bilder oder Skulpturen ausgepackt und ausgestellt würden, sondern die | |
Beteiligten sich erst mal umsähen, wo sie hier eigentlich sind. | |
Ein Beispiel? Die Arbeit von Vladimir Seleznyov aus Jekaterinburg, Mitglied | |
der deutsch-russischen Künstlergruppe „Quarantäne“, zu der auch Schlagheck | |
selbst gehört: Der Russe hat kleine, postkartengroße Porträtzeichnungen | |
angefertigt, Porträts von Künstlerkollegen, aber auch von Gaardener | |
Anwohnern, wie sie draußen vor dem Laden stehen, und der Tag verstreicht. | |
Gemalt hat er sie auf dünnem Papier, das dann auf die Fensterscheiben | |
angebracht wird, sichtbar von drinnen und von draußen: da sei bald die | |
glasklare Trennung zwischen vordergründig schaffenden Künstlern und | |
angeblich müßiggängerischen Anwohnern aufgehoben. | |
Ob – und wie gut – das klappen würde, habe man nicht vorhersagen können: | |
„Als mir Vladimir die Idee vortrug, meinte ich: ‚Das kannst du vergessen, | |
öffentlich werden wollen die Leute schon mal gar nicht‘“, erzählt | |
Schlagheck. „Aber das Gegenteil war der Fall.“ Bis heute erinnerten sich | |
die Gaardener an diese Arbeit, kämen immer mal wieder auf sie zu sprechen: | |
„Da sind sie mal ernst genommen worden.“ | |
## Leistungsschau des Landes | |
Aktuell präsentiert sich in der Elisabethstraße die „Regionale“. Das ist | |
nicht irgendeine Gemeinschaftsausstellung, es ist die wiederkehrende Schau, | |
mit der das Land Schleswig-Holstein seine Stipendiaten der Sparten | |
Literatur, Musik, Theater und, vor allem, bildenden Kunst vorstellt. Eine | |
echte Leistungsschau also; mit Benjamin Mastaglio und Constanze Vogt sind | |
zwei dabei, die von der Stadt Kiel schon mit dem Gottfried-Brockmann-Preis | |
ausgezeichnet wurden. Die lokale Comicgröße Gregor Hinz ist vertreten, und | |
der Lyriker Arne Rautenberg zeigt feinsinnige Collagen. Das diesjährige | |
Motto: „For You for Ort“. Und spätestens jetzt finden also auch die | |
klassischen Galeriegänger den Weg nach Gaarden. | |
Und umgekehrt? Hat die zeitgenössische Kunst neue Fans in Gaarden gefunden? | |
Gelingt der Dialog? Schlagheck zögert, wie er das jetzt abschließend | |
beschreiben soll. Es gebe da diese lästige Vokabel von der „Kommunikation | |
auf Augenhöhe“, aber er würde das lieber so sagen: „Wir sind für die Leu… | |
hier nicht mehr die spinnerten Künstler, die man vergessen kann. Sondern | |
die spinnerten Künstler, die man immer mehr versteht.“ | |
2 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Frank Keil | |
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