# taz.de -- Roma in Kiel-Gaarden: Ganz unten | |
> Hunderte bulgarische Roma leben in Kiel-Gaarden in prekären | |
> Verhältnissen. Wegen der Übergangsregelungen zur EU-Osterweiterung haben | |
> sie kaum Anspruch auf finanzielle, keinen auf medizinische Hilfe. Als | |
> Opfer sehen sie sich trotzdem nicht - denn in Bulgarien ging es ihnen | |
> noch schlechter. | |
Bild: Ein Internet-Cafe in Kiel-Gaarden. | |
KIEL taz | Es ist Abend, jetzt kommen die ersten Kakerlaken. Eine, | |
fingernagelgroß, läuft vom weiß geblümten Tapetenstück oberhalb der | |
Herdplatte in die orangene Farbzone. Feraye* sagt, sie habe bestimmt schon | |
dreißig Flaschen Gift gekauft. Geholfen hat es nicht. Sie zwängt sich aus | |
der Nische zwischen Wand und Küchentisch, um die Haustür zu öffnen. Ihr | |
Sohn hat geklopft und seinen Namen gerufen. Denn eine Klingel gibt es nicht | |
und es laufen viele Fremde durch die Flure, Tag und Nacht. | |
Feraye wohnt seit zwei Jahren in diesem Haus im Kieler Stadtteil Gaarden. | |
Sie ist 39 Jahre alt, alleinerziehend, ihre Tochter ist 8, ihr Sohn 15. | |
Viele der Nachbarn, denen sie im Treppenhaus begegnet, kommen aus Bulgarien | |
wie sie: Frauen, vor deren Türen Männer anstehen. Familien, die sich | |
einzelne Zimmer teilen, deren Kinder oft ohne Winterkleidung und hungrig | |
aus dem Haus gehen - und manchmal nicht zur Schule. | |
Etwa dreihundert bulgarische Roma sind in Kiel gemeldet, sagt | |
Sozialamtsleiter Alfred Bornhalm. Tatsächlich seien mindestens doppelt so | |
viele gekommen. Erfahren habe er von den Migranten im Sommer vergangenen | |
Jahres. | |
Bulgaren sind seit 2007 EU-Bürger und können legal nach Deutschland ziehen. | |
Doch bis 2014 haben sie keinerlei Anspruch auf Sozialleistungen, lediglich | |
Kindergeld können sie beantragen. Arbeiten dürfen sie nur in bestimmten | |
Bereichen und sofern niemand sonst die Stelle möchte. Sie dürfen sich | |
selbstständig machen, etwa als "Subunternehmer" auf dem Bau - als | |
Bauarbeiter. | |
"Wer sich hier niederlässt, muss unter menschenfeindlichen Bedingungen | |
arbeiten, ohne Grundsicherung", sagt der Kieler SPD-Landtagsabgeordnete | |
Bernd Heinemann. Tatsächlich können sich die meisten bulgarischen Roma eine | |
Krankenversicherung nicht leisten. Feraye hatte eine Zyste im Kiefer und | |
oft seien sie und ihre Kinder wegen der Insektenbisse beim Arzt gewesen, | |
sagt sie. Sie hat Glück: Ihr Freund hat einen deutschen Pass und manchmal | |
gibt er Geld dazu. | |
Die nicht bezahlen können, landen oft beim "Medibüro", einer medizinischen | |
Vermittlungsstelle für Menschen ohne Papiere. Eigentlich. "Die meisten, die | |
kommen, sind genau diese Leute", sagt Mona Golla von der | |
Migranten-Beratungsstelle: "Wir sind da nicht so glücklich mit." | |
Auch Schwangerschaftsberatungsstellen müssen Bulgarinnen meist wegschicken. | |
Eine Geburt, die zwischen 1.500 und 3.500 Euro kostet, können sie nicht | |
bezahlen. "Die Stadt müsste kreative Möglichkeiten entwickeln", sagt Golla. | |
Das städtische Krankenhaus in Kiel sucht immer noch nach einer Finanzierung | |
für eine Roma-Frau, die vor rund zwei Wochen Zwillings-Frühchen entbunden | |
hat. Bei notwendigen Operationen werde niemand fortgeschickt, sagt der | |
stellvertretende Geschäftsführer Thomas Kruse. Doch letztlich entscheide | |
das Sozialamt, ob das Krankenhaus auf den Kosten sitzen bleibe. | |
Kurz nachdem Feraye in Kiel ankam, wurde auch sie schwanger. Das Kind | |
verlor sie durch einen Tritt in den Bauch: Ein Mann habe sie gedrängt, sich | |
zu prostituieren. Sie wurde laut, er trat zu. So gehe es allen Frauen, "die | |
besser aussehen", sagt Feraye. | |
In Laufhäusern und in der Gaststättenprostitution, einer "sehr unschönen | |
Form" in Hinterräumen und Toiletten, arbeiteten heute größtenteils | |
Bulgarinnen, sagt die Leiterin der "Ermittlungsgruppe Milieu" der Kieler | |
Kriminalpolizei, Silke Dörner. Auch wenn die Frauen oft nur einen kleinen | |
Teil des Geldes behalten dürften, sähen sie sich häufig nicht als Opfer - | |
die Armut im Heimatland sei zu groß. "Roma flüchten aus einer | |
Perspektivlosigkeit", sagt der Vorsitzende des Landesverbands Deutscher | |
Sinti und Roma, Matthäus Weiß. In den Herkunftsländern würden sie von der | |
Mehrheitsbevölkerung diskriminiert, lebten oft versteckt. | |
Bei ihrem Vermieter, sagt Feraye, gelte: "Keine Kaution, keine Fragen." Dem | |
Hausmeister bringt sie die Miete in bar, dann setzt sie sich an seinen | |
Glastisch mit den Bast-Tischdeckchen und er schreibt ihr eine Quittung. Die | |
Miete steige jeden Monat, sagt sie. Über die Kakerlaken hat sie sich schon | |
beschwert. "Wenn ihr die Dönertüten im Flur stehen lasst!", sagte der | |
Hausmeister. | |
Der Sozialdezernent der Stadt, Adolf-Martin Möller (parteilos), sagt, das | |
Bauordnungsamt habe in Ferayes Haus keine Beanstandungen gehabt. "Warum | |
sollen wir von staatlicher Seite etwas oktroyieren, was sie nicht wollen?", | |
fragt er: "Sie sind in ihren Wohnungen glücklich." Dass die Stadt | |
medizinische Kosten tragen müsse, sei allerdings ein "akutes Problem". | |
Nachdem der Ortsbeirat Gaarden im November über die Roma diskutiert hatte, | |
stellte die Stadt zwei Sozialarbeiter ein, die auf die Kinder zugehen und | |
für deren Schulbesuch sorgen sollen. Auch Kleiderspenden und die Tafel, die | |
Bulgaren vorher nicht nutzen durften, wurden für sie geöffnet. Eine | |
Gaardener Ganztagsschule vergibt ein Mittagessen an die Roma-Kinder. | |
Diejenigen, die kommen, sind meist Analphabeten so wie ihre Eltern, sagt | |
Schulleiterin Ute Kohrs. Ein Junge hat ihr erzählt, dass er früher auf | |
einer Müllkippe gelebt habe. | |
Sozialdezernent Möller sagt, die Stadt vertrete die Linie, keine Anreize | |
für eine weitere Zuwanderung zu schaffen. Sozialamtsleiter Bornhalm warnt | |
vor dem "Fluch der guten Tat": Denn nur EU-Bürger, die für ihre Existenz | |
sorgen können, sind vor einer Abschiebung geschützt. | |
"Man muss das Risiko vermeiden, dass sie verhaftet und in Abschiebehaft | |
genommen werden", sagt auch Roma-Landesvorsitzender Weiß. Trotzdem fordert | |
er akzeptable Wohnräume. "Da muss sich die Stadt bewegen", sagt er. | |
"Wie komme ich über den nächsten Tag?", denkt Feraye oft beim Einschlafen. | |
Doch würde ihr jemand 5.000 Euro schenken, würde sie eher nach Afrika als | |
zurück nach Bulgarien gehen. "Bulgarien ist scheiße", sagt sie und tritt | |
mit den Füßen in die Luft - wie die Polizei. In Deutschland wisse sie, dass | |
ihre Kinder sicher nach Hause kommen. | |
*Name geändert | |
28 Feb 2011 | |
## AUTOREN | |
Kristiana Ludwig | |
## TAGS | |
Kunstwerk | |
Kiel | |
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