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# taz.de -- Roman über Liebeswahn: Mach dich nicht lächerlich
> Was passiert, wenn sich kluge Menschen unglücklich verlieben? Die Autorin
> Lena Andersson beschreibt es in „Widerrechtliche Inbesitznahme“.
Bild: Er liebt mich, er liebt mich NICHT.
Unglücklich verliebt zu sein ist natürlich niemals lustig. Es ist eine
Qual, und kluge Menschen lassen deshalb auch schön die Finger davon.
Jedenfalls theoretisch. Dass es in der Praxis nicht so einfach ist, davon
weiß fast jede(r) ein Lied zu singen, ein sehr trauriges natürlich.
Ganz im Gegenteil dazu ist in der Literatur der Liebeswahn zwar ein wohl
fast ebenso altes Thema wie die Liebe selbst, wird aber nur selten – oder
nie – so tragisch dargestellt wie von den Betroffenen empfunden. Schon
Shakespeare bezog aus diesem Topos einen beträchtlichen Teil seiner Komik.
Damals wie heute hat das Lachen über die bedauernswerten Bühnenmenschen,
die sich in vergeblicher Liebeshoffnung gelbe Strumpfbänder über die Beine
streifen oder sich gar in einen Esel vergucken, eine wohl zutiefst
kathartische Wirkung.
Was geschieht, wenn ein kluger Mensch, sogar ein ausnehmend kluger Mensch,
einem irrationalen Liebeswahn verfällt, und über welch komplexe Methoden
das Hirn verfügen kann, sich selbst etwas vorzumachen, zeigt die
schwedische Autorin Lena Andersson in ihrem preisgekrönten Roman
„Widerrechtliche Inbesitznahme“. 2013 gab es dafür den wichtigsten
schwedischen Literaturpreis, den Augustpreis.
In ihrer Dankesrede würdigte die Autorin insbesondere jene Diebe, die ihr
während einer Zugfahrt den Laptop mit einem angefangenen Romanmanuskript
gestohlen hatten. Vom Schicksal derart herausgefordert – denn das Material
war unwiederbringlich verloren –, entschloss sie sich kurzerhand, das
begonnene Projekt zu vergessen und einen anderen Roman anzufangen, von dem
sie gewusst habe, dass sie ihn irgendwann würde schreiben müssen: diesen
hier.
## Vernichtende Genauigkeit
„Ester Nilsson hieß ein Mensch“, lautet der erste Satz des Romans, der in
vollendeter Lakonie zu erkennen gibt, dass diese Ester Nilsson überhaupt
nichts Besonderes ist, sondern ganz genauso funktioniert wie alle anderen
Menschen auch. Ester Nilsson selbst aber weiß das noch nicht. Als
Essayistin und Dichterin, die mit ihren 31 Jahren erfolgreich von ihrem
intellektuellen Gewerbe leben kann, hält sie sich nämlich durchaus für
etwas sehr Spezielles: „Mit vernichtender Genauigkeit nahm sie die
Wirklichkeit ausgehend von ihrem Bewusstsein wahr und lebte nach der
Prämisse, dass die Welt so war, wie sie selbige erlebte.“ Das ist natürlich
bereits ein gefährlicher Basiswahn.
Ester lebt seit Jahren in einer gut funktionierenden, aber nicht sehr
inspirierenden Beziehung. Als sie den Auftrag erhält, einen Essay über den
bildenden Künstler Hugo Rask zu schreiben, und sich in dessen Werk
vertieft, entwickelt sie schon beim Schreiben eine hochemotionale
Besessenheit von dem ihr bis dahin völlig Unbekannten. Der Künstler selbst
ist hocherfreut über ihren Text, fühlt sich gut verstanden und freundet
sich mit der bedeutend jüngeren Frau an.
Ester sieht die sporadischen gemeinsamen Unternehmungen als Zeichen für
deutlich mehr als Freundschaft und trennt sich von ihrem Lebensgefährten.
Hugo dagegen zeigt lange Zeit kein weitergehendes Interesse. Auch nachdem
es endlich zu der sexuellen Begegnung gekommen ist, auf die Ester gewartet
hat, verhält der Mann sich nicht wie erhofft, bleibt nicht zum Frühstück
und ruft nicht an.
## Bedürfnis nach Bestätigung
Andersson erspart ihrer Protagonistin nichts. Sie beschreibt, wie Ester
sinnlose Runden um Häuserblocks dreht, in der Hoffnung, ganz zufällig mit
dem Begehrten zusammenzutreffen. Wie sie abends seine Fenster beobachtet,
um zu überprüfen, ob er zu Hause beziehungsweise allein ist. Wie sie von
Eifersucht gequält wird, weil sie entdeckt, dass er vermutlich eine Frau in
Südschweden hat, über die er sie anlügt.
Ironischerweise ist Ester die ganze Zeit klug genug, sowohl Hugo als auch
sich selbst zu durchschauen, ohne dabei aber zu einem vernünftigen Ergebnis
zu kommen (“Sie dachte über die seltsame Tatsache nach, dass sieben
Milliarden Menschen auf der Erde nicht von einem Lebenszeichen von ihm
abhängig waren. Warum war das bei ihr also anders?“). Das übergroße
Bedürfnis des egomanen Hugo nach Bestätigung, seine Tendenz, sich stets mit
einer Phalanx aus Bewunderern zu umgeben, seine Gedankenlosigkeit im
Hinblick auf die Gefühle anderer – Ester sieht das alles und missbilligt
es, um es dann als irrelevant zu verbuchen.
Um so relevanter gerät ihr in der Interpretation seines Verhaltens jedes
noch so kleine Detail freundlicher Zuwendung. Die Stimme der Vernunft, die
den Roman durchzieht als anonymer „Freundinnenchor“, tut ihr Bestes, um
Ester wieder zu klarem Verstand zu bringen. Doch der kommentierende Chor
bleibt, genau wie in der klassischen griechischen Tragödie, ein für die
Handlung völlig wirkungsloser Running Gag und argumentiert vergeblich gegen
die alles verschlingende Hoffnung. „Die Hoffnung ist ein Parasit im
Menschenkörper“, doziert dazu die unpersönliche Erzählstimme, man müsse s…
„verhungern lassen, damit sie ihr Wirtstier nicht verführt und verblendet“.
## Reißfeste Ironie
Es wimmelt in diesem Roman nur so von treffenden Sätzen, die man sich in
Lebenskrisen ausschneiden und an die Wand hängen könnte. Es sind Sätze, wie
sie auch Ester selbst schreiben könnte, wenn sie ihren gesamten Verstand
noch bei sich hätte. Doch der philosophische Essay, den sie verfasst, um
ihrer Qual intellektuell zu Leibe zu rücken (er handelt vom Recht darauf,
vom Geliebten gut behandelt zu werden), wird abgelehnt.
Das alles ist – es sei denn, man wäre gerade unglücklich verliebt – über…
hochvergnüglich zu lesen, ohne dabei je leichtfertig zu werden. Es ist ein
so intelligenter wie hintersinniger und letztlich tiefgefühlter Roman, der
einerseits strikt aus der Perspektive der Protagonistin erzählt ist und
gleichzeitig doch einen meterdicken Sicherheitskordon aus reißfester Ironie
und spitzen Sentenzen zwischen sich und seine törichte Heldin legt. Und das
ist sehr gut so. Denn mit Ester mitfühlen kann man wohl; mit ihr mitleiden
aber will man ganz sicher nicht. Wir sehen so von außen nämlich sehr gut,
dass Hugo in Wirklichkeit ein Esel ist.
15 Aug 2015
## AUTOREN
Katharina Granzin
## TAGS
Liebe
Sexualität
Literatur
Michel Houellebecq
Napoleon
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