# taz.de -- Beziehungsliteratur von Sibylle Berg: Untenrum unglücklich | |
> Liebe oder Sex? Abenteuer oder Sicherheit? Absurd und elegant erzählt | |
> Sibylle Berg von einem Paar: „Der Tag, als meine Frau einen Mann fand“. | |
Bild: Sibylle Berg hat ein neues Buch geschrieben: Das ist krass und eklig und … | |
Der Hanser Verlag wirbt für Sibylle Bergs neuen Roman mit dem Spruch: | |
„Wirklich alles, was Sie schon immer über Sex wissen wollten.“ Das ist | |
brutal gelogen. Richtiger wäre: „Ziemlich genau alles, was Sie nie über Sex | |
wissen wollten, was Ihnen dann und wann aber begegnen wird, sorry.“ | |
„Der Tag, als meine Frau einen Mann fand“ ist die Geschichte von einem | |
mittelalten, mittellangweiligen, kinderlosen Paar, das in einer | |
mittelgroßen mitteleuropäischen Stadt wohnt. Rasmus und Chloe erzählen | |
abwechselnd davon, wie sie ihre Ehe gemeinsam gegen die Wand fahren. | |
Eigentlich geht es ihnen gut miteinander. Sie sind seit zwanzig Jahren ein | |
Paar, eine Einheit. Ihre Körperformen haben sich einander angeglichen, | |
beide durchschauen mehr oder weniger die Taktiken des anderen, aber lassen | |
ihn gewähren, aus Faulheit und gefühlter Alternativlosigkeit. | |
„Wenn mich Bekannte fragen, ob ich mir vorstellen kann, mich scheiden zu | |
lassen, weiß ich nicht, wovon sie reden“, sagt Chloe. Rasmus und sie | |
besitzen einander, so wie man eine Lebensversicherung besitzen kann oder | |
eine Eigentumswohnung, und eine solche haben sie auch, jedenfalls fast. | |
Denn die Wohnung gehört Rasmus’ Mutter Lumi, einer hippiesken Finnin, von | |
der Rasmus sich nie gelöst hat. Und so ist die Wohnung denn auch mehr Lumis | |
erweiterter Uterus als irgendetwas anderes. | |
## Der Sex, unsere Todeszone | |
Untenrum sind Rasmus und Chloe leider so gar nicht glücklich. Was man | |
besitzt, braucht man nicht mehr zu begehren. Über den gemeinsamen Sex | |
befindet Chloe: „Das war noch nie unsere Stärke.“ Rasmus hat sich, was | |
seine sexuelle Betätigung angeht, „an Pornos orientiert“ und weiß: „Es … | |
mir nie gegeben, Chloe zu erregen.“ Der Sex mit Chloe ist für ihn „unsere | |
Todeszone. Niemandsland. Vermintes Gebiet.“ Sie versuchen es trotzdem immer | |
wieder. „Wir halten uns so fest und streicheln uns, wir beschützen uns, und | |
warum nur, warum nur müssen wir ficken, als ob wir Fremde wären.“ | |
Die Geschichte könnte hier zu Ende sein – beziehungsweise immer so | |
weitergehen –, wenn Rasmus nicht auch beruflich eine ziemliche Krise hätte. | |
Er beginnt Gedichte zu lesen und will ein Theaterprojekt in einem | |
Dritte-Welt-Land starten: „Ich fühlte etwas, ähm, Großes. Den Beginn einer | |
neuen Zeitrechnung.“ Chloe geht mit, und es beginnt tatsächlich etwas | |
Neues, nur leider anders als geplant. | |
Was dann passiert, ist, wie so vieles bei Sibylle Berg, grotesk und krass | |
und eklig und verstörend, makaber und lustig und nah, und mit einem Wort: | |
wunderschön. Und mit absurder Eleganz erzählt. Chloe verliebt sich in | |
Benny, einen rotgelockten Masseur, mit dem sie den Sex ihres Lebens hat. | |
Sie lässt ihn zu sich und Rasmus nach Europa nachkommen. Benny fungiert als | |
sprechender und kochender Dildo und als MacGuffin einer ehelichen | |
Apokalypse, in der auch Rasmus’ Mutter eine nicht geringe Rolle spielt. Das | |
alles läuft mit viel Verachtung und Selbstekel ab, mit Leere und Todesangst | |
und vor allem mit viel Kontrollverlust. So viel, dass am Ende surrealer | |
Schnee durch geschlossene Fenster weht. | |
## Zoom ans Abscheuliche | |
„Der Tag, als meine Frau einen Mann fand“ ist eine Erzählung direkt aus der | |
Hölle, aber aus dem Teil der Hölle, wo man manchmal auch noch lachen kann. | |
Und sogar lächeln. Weil Sibylle Berg an das Abscheuliche so nah heranzoomt, | |
dass es wieder Liebe wird – wie Krankheitserreger, die unter dem Mikroskop | |
betrachtet eigentlich ganz hübsch sein können. Sie zoomt aber auch wieder | |
heraus, und dann wird die Szenerie bizarr lächerlich, und man wünscht sich | |
eine Verfilmung von Ulrich Seidl. | |
Freud hätte seine Freude. So viel Sex, so viel Tod. „Wir wollen ficken, | |
weil wir nicht sterben wollen“, sagt Chloe. Weil die Leere unerträglich | |
ist, vor allem, wenn man nicht gerade religiös ist. | |
Wäre Sibylle Berg neulich mit dem Flugzeug abgestürzt, als sie auf Twitter | |
schrieb, es habe „gewackelt wie Sau“, dann wäre „Der Tag“ ihr letztes … | |
geworden und man hätte schreiben können, dass sie in diesem Buch – nach 15 | |
Romanen und 16 Theaterstücken – auf glorreiche Art zu ihren Anfängen | |
zurückgekehrt ist, zu ihrem ersten Roman von 1997: „Ein paar Leute suchen | |
das Glück und lachen sich tot“. Um das Glück geht es immer noch. In „Der | |
Tag“ dreht sich die Suche danach vor allem um die Frage, ob Liebe oder Sex | |
wichtiger sind, ob Sicherheit oder Abenteuer. | |
## „Die Penner haben von mir abgeschrieben“ | |
Im Interview mit den Schweizer Tages-Anzeiger antwortete Berg auf die | |
Frage, ob Michel Houellebecq oder Milan Kundera für das Buch Pate gestanden | |
hätten: „Die Penner haben von mir abgeschrieben, wenn schon.“ Ihr Buch sei | |
„Houellebecq mit besseren Sexszenen oder Kundera in lustig“. Sie wird nun | |
viel mit Houellebecq verglichen, und das kann man machen, aber so viel | |
erklärt das auch nicht. Das Angewiderte, das Zynische, ja. Aber das hatte | |
Nietzsche auch. | |
Und Nietzsche ist es auch, den sie am Ende zitiert: „Die Krähen schrei’n / | |
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:/ Bald wird es schnei’n, / Weh dem, | |
der keine Heimat hat.“ Diese Heimat kann auch ein Mensch sein. „Das ist | |
doch, was Liebe ausmacht“, sagt Rasmus irgendwann, „nicht wahr, dass man | |
über das Abendessen reden kann und dennoch nicht verblödet“. Und das ist | |
eine schöne und wichtige Erkenntnis, die trotzdem in so vielen Momenten | |
überhaupt nicht weiterhelfen wird. | |
14 Feb 2015 | |
## AUTOREN | |
Margarete Stokowski | |
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