# taz.de -- Kommentar Verfassungsreform in Italien: Showtime für Matteo Renzi | |
> Die Parlaments -und Wahlreform ist ein großer Sieg für den italienischen | |
> Ministerpräsidenten. Den Italienern droht nun ein neuer Berlusconismus. | |
Bild: Maria Elena Boschi, Renzis Ministerin für die Verfassunsgreform. Sie fre… | |
Matteo Renzi hat allen Grund zur Freude. Eine Verfassungsreform, die noch | |
vor wenigen Wochen unmöglich schien, passierte am Dienstagnachmittag ohne | |
Probleme den Senat. Das große Umbauwerk, das Italiens relativ junger | |
Ministerpräsident dem Land verordnet hat, nimmt damit Gestalt an, und Renzi | |
darf sich als Reformer feiern lassen, dem gelingt, woran in den letzten | |
Jahrzehnten unzählige Vorgänger gescheitert sind. | |
Kern der Reform ist die Abkehr Italiens vom „perfekten Zweikammersystem“, | |
einem Unikum, das immer wieder für die Blockade des politischen Systems, | |
für einen äußerst langwierigen Gesetzgebungsprozess, ja auch für den Sturz | |
von Regierungen sorgte. In Italien nämlich hatten seit 1948 beide Kammern – | |
Abgeordnetenhaus und Senat – akkurat die gleichen Rechte. | |
Braucht das Land diese Doppelung wirklich? – diese Frage stellte nicht erst | |
Renzi: doch er war der erste, der entschlossen zur Entmachtung des Senats | |
schritt, einer Entmachtung, die nach zwei weiteren parlamentarischen | |
Lesungen nun wohl bald Wirklichkeit ist. | |
## Ab jetzt wird durchregiert | |
Ein Fortschritt hin zu mehr Regierbarkeit ist das allemal – das ist die | |
gute Nachricht. Italiens Regierungschefs und ihre Kabinette dürften in | |
Zukunft fester im Sattel sitzen, der Gesetzgebungsprozess dürfte sich | |
deutlich beschleunigen. | |
Doch nicht umsonst warnen viele Kritiker davor, dass Italiens Demokratie | |
sich in Zukunft gleichsam konstitutionell in eine One-Man-Show verwandeln | |
könnte. | |
Denn neben dem entmachteten Senat wird Italien ein Abgeordnetenhaus sehen, | |
das nach einem neuen Wahlrecht gewählt werden wird. Einem Wahlrecht, in dem | |
eine Partei im zweiten Wahlgang eine komfortable absolute Mehrheit erhält, | |
auch wenn sie in der ersten Runde zum Beispiel bloß ein Viertel der Stimmen | |
auf sich vereinigt hat. | |
Und, mehr noch, die Auswahl der Kandidaten besorgt in Italien die | |
Parteiführung. Matteo Renzi könnte so für Wahllisten sorgen, die ihm eine | |
nibelungentreue Parlamentsfraktion zusichern. Jene Fraktion wiederum könnte | |
mit ihrer satten Mehrheit die Wahl eines genehmen Staatspräsidenten sichern | |
– wirkliche Gegengewichte zum allmächtigen Regierungschef gäbe es kaum | |
noch. | |
## Diktatur der Minderheit | |
Alexis de Tocqueville warnte davor, dass Demokratien zur Diktatur der | |
Mehrheit werden können. In Italien droht theoretisch mehr: die Diktatur | |
einer Minderheit. Hätte Silvio Berlusconi jene Machtfülle genossen, über | |
die binnen zwei Jahren womöglich Renzi verfügt, dann wäre er heute | |
vielleicht immer noch im Amt, dann hätte das Parlament viele seiner Gesetze | |
abgesegnet, die darauf zielten, Silvios Probleme mit der Justiz zu lösen | |
und seine Kritiker kaltzustellen. | |
Stabiler und berechenbarer soll Italien dank seiner Reformen werden, meint | |
Renzi. Doch in einem Land, in dem sich heute drei Blöcke gegenüberstehen, | |
in dem Renzis gemäßigt linke Partito Democratico einerseits mit einer | |
Rechten konkurriert, in der die mit Marine Le Pen verbündete Lega Nord | |
immer stärker den Ton angibt, und andererseits mit Beppe Grillos | |
Fünf-Sterne- Protestbewegung , könnte exakt das Gegenteil der Fall sein. | |
Ein neues Ein-Kammer-System, dazu ein Wahlrecht mit extremem Mehrheitsbonus | |
sind geeignet, die Urnengänge in eine Lotterie zu verwandeln, eine Lotterie | |
zudem, in der der Gewinner so gut wie alles absahnt, während den anderen | |
die Brosamen der Macht bleiben. Ob Italien darüber stabiler wird, darf | |
bezweifelt werden. | |
14 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Michael Braun | |
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