| # taz.de -- Nachruf auf Joan Didion: Schutzheilige der Taxigäste | |
| > Sie prägte die US-amerikanische Gesellschaft mit ihren Reportagen und | |
| > Essays. Mit ihrem desillusionierten Blick und Trauer. Nun ist Joan Didion | |
| > gestorben. | |
| Bild: Joan Didion im Jahr 2005 | |
| Wer 28 Jahre alt ist und im Taxi weinen muss, weil einem das Leben, von dem | |
| man immer geträumt hat, über dem Kopf zusammenklatscht wie eine | |
| hinterhältige Welle, der muss die Schutzheilige der traurigen Taxigäste | |
| anrufen: die US-amerikanische Schriftstellerin Joan Didion. Sie ist nun, | |
| mit 87 Jahren, in New York City verstorben, in der Stadt, aus der sie einst | |
| geflüchtet war. In ihrem Essay „Das Spiel ist aus“ von 1967 beschreibt sie, | |
| wie sie in ihrer Sehnsuchtsstadt mit 28 die Krise bekam, ihre | |
| Lieblingsrestaurants nicht mehr betreten konnte, die Menschen, die ihr | |
| wichtig waren, beleidigte, und überhaupt: weinte. „Ich weinte so lange, bis | |
| ich nicht mal mehr unterscheiden konnte, wann ich weinte und wann nicht, | |
| ich weinte in Fahrstühlen, in Taxis und in chinesischen Wäschereien“, | |
| schrieb sie. | |
| Joan Didion fand die elegantesten Sätze der Welt, aber selten, so schien | |
| es, vollumfängliche Zufriedenheit an einem Ort. | |
| Sie wuchs in Kalifornien auf und gewann 1956, nach Abschluss ihres | |
| Literaturstudiums in Berkeley, den „Prix de Paris“ des Modemagazins Vogue. | |
| Damit hatte Didion einen Redakteursjob in New York City in der Tasche. Acht | |
| Jahre lang schrieb sie für die Vogue – bis die Traurigkeit größer wurde als | |
| der Traum von New York. 1964 heiratete Didion den Schriftsteller und | |
| Drehbuchautor John Gregory Dunne. Mit ihm gemeinsam ging sie zurück nach | |
| Kalifornien, bald adoptierten sie ihre Tochter Quintana Roo. | |
| Obwohl Didion vor allem als stilbildende Essayistin berühmt wurde, als | |
| Patin des subjektiven Reportagestils, den man bald als „New Journalism“ | |
| bezeichnen würde, und auch als Romanautorin, begann ihre Rezeption im | |
| deutschen Mainstream vor allem mit ihrem Memoir „[1][Das Jahr magischen | |
| Denkens]“, in dem sie den Tod ihres Ehemannes verarbeitete: ein großer, | |
| bewegender Bericht über Trauer und die Routinen, in die sich Menschen | |
| flüchten, denen Geliebtes genommen wird. | |
| „Ich war nicht immer überzeugt, dass er recht hatte, auch er war nicht | |
| immer überzeugt, dass ich recht hatte, aber wir waren füreinander der | |
| Mensch, dem man vertraute“, schrieb sie 2005 im „Jahr magischen Denkens“. | |
| [2][In der Netflix-Dokumentation „The Center Will Not Hold“ von 2017] | |
| erklärte sie ähnlich rührend pragmatisch, Verlieben sei ihre Sache nie | |
| gewesen, aber sie sei eben gern in dieser Beziehung gewesen. Dunne und sie | |
| redigierten einander jeden einzelnen Text, auch Essays, die von ihren | |
| eigenen Eheproblemen handelten. | |
| ## Desillusionierungsbeauftragte der Traumfabrik | |
| Über ihre Eltern schrieb sie einmal: „Objektiven Darstellungen zufolge bin | |
| ich in einer,normalen' und,glücklichen' Familie aufgewachsen, und dennoch | |
| war ich fast dreißig, ehe ich mit meiner Familie am Telefon reden konnte, | |
| ohne nach dem Auflegen weinen zu müssen.“ Didions Familie gehörte zu den | |
| ersten, die nach Kalifornien gekommen waren. | |
| Die Frontier-Erzählungen der ersten weißen Siedler:innen geisterten | |
| lange durch ihr Leben. Immer war ihr enges Verhältnis zu Kalifornien | |
| spürbar, wenn sie alte und neue (Anti-)Held:innen Hollywoods porträtierte: | |
| John Wayne und Jim Morrisson, Joan Baez und Linda Kasabian, die Charles | |
| Manson zum Mord an der Schauspielerin Sharon Tate kutschiert hatte. | |
| Obwohl sie die Erzählungen, die L.A. umrankten, in ihren Texten immer | |
| wieder auseinandernahm, war Didion mehr als die | |
| Desillusionierungsbeauftragte der Traumfabrik. Mit Kalifornien war sie viel | |
| zu eng verbunden („California belongs to Joan Didion“, hat die Kritikerin | |
| Michiko Kakutani 1979 geschrieben), um seinem Zauber nicht auch mal mit | |
| Genuss zu erliegen. In „Pazifische Entfernungen“, einem Essay aus dem Band | |
| „Sentimentale Reisen“, schreibt sie über die Entfremdung, über den | |
| seltsamen Raum- und Zeitkapselzustand, in dem man sich beim Autofahren | |
| durch L.A. befindet; und trotz (oder gerade wegen) der Ambivalenz des von | |
| Didion beschriebenen Sentiments zieht es einen magisch hin in diese Welt | |
| der pastellfarbenen Bungalows und Unverbindlichkeiten. | |
| Spürbare innere Unrast ist eine Konstante in Didions Schaffen, ansonsten | |
| hatte sich der Ton ihrer Essays und Romane über die Jahre verändert: Die | |
| späten Texte prägte oft Wehmut, die frühen Unbehagen, wenn nicht gar Horror | |
| vor den Umwälzungen jener Zeit. | |
| „Die Mitte hielt nicht länger“ – „The center will not hold“: Mit die… | |
| Worten begann „Slouching Towards Bethlehem“ („Das Jahr der Bestie“), der | |
| Essay über die ganz frühen Tage der [3][Hippiebewegung in San Francisco], | |
| der sie 1967 zum Star machen, dazu ihren Status als die widersprüchliche | |
| Figur im Kalifornien der 60er festigen sollte. Kaum ein berühmtes Foto von | |
| der jungen Joan Didion, auf dem sie ohne Zigarette, Drink oder schnelles | |
| Auto posiert, kaum ein Foto frei von Artefakten der gegenkulturellen | |
| Bohème. Und doch betrachtete sie das Geschehen in Haight-Ashbury durch die | |
| Augen einer Frau aus konservativem Hause. | |
| Sie schaute genau hin, wo andere vor allem Veränderung fühlen wollten, und | |
| fand dabei – Jahre, bevor Charles Manson und seine „Family“ in den | |
| Hollywood Hills mordeten – die dunkle, beklemmende, hässliche Seite des | |
| Blumenkindertraums: desolate, wohnungslose Teens. Fünfjährige Kinder auf | |
| Acid, was Didion, wie sie selbst sagte, besonders schwer ertragen konnte, | |
| weil sie während der Recherche von ihrer zweijährigen Tochter Quintana | |
| getrennt war. | |
| ## Sicherheitsabstand und Skepsis | |
| Nun schien es aber nie so, dass Didion das Kalifornien, durch das sie | |
| streifte wie ein sehr charismatisches Reportergespenst, am liebsten mal | |
| ordentlich durchgekehrt hätte. Erst recht aber wollte sie nicht – anders | |
| als viele Autor:innen, denen man das „New Journalism“-Label anheftete – im | |
| Zentrum der gerade entstehenden Promi- und Rock-’n’-Roll-Kultur stehen. | |
| Trotzdem sollten viele Hollywood-Größen später bei ihr und John Gregory | |
| Dunne ein- und ausgehen. | |
| Didion war auch eine kühne Theoriearchitektin wie Susan Sontag; lieber | |
| stand sie schmal und schlau am Rand, wenn die Welt sich veränderte, und | |
| guckte zu: immer mit Sicherheitsabstand, immer mit so viel Skepsis vor | |
| revolutionärem Furor aller Art, dass sie niemals mitbrennen wollte, wenn | |
| die Gesellschaft für eine Sache Feuer gefangen hatten – sei es für die | |
| Schwarze Bürgerrechtsbewegung oder die Vietnam-Proteste. | |
| In einem 1965 erschienenen Essay über Moral schrieb sie, dass wir „bei | |
| allem, was über unsere fundamentale Loyalität der sozialen Verabredung | |
| gegenüber hinausgeht, keine Möglichkeit haben zu wissen, was,richtig' und | |
| was,falsch', was,gut' und was,böse' ist.“ Und weiter: „Wenn wir anfangen, | |
| der Täuschung zu erliegen, daß wir bestimmte Dinge nicht einfach haben | |
| wollen oder sie brauchen, […] sondern wenn dieses Haben-Wollen zu einem | |
| moralischen Imperativ wird, spätestens dann gehören wir zu den modernen | |
| Wahnsinnigen, spätestens dann ist das dünne Winseln der Hysterie im ganzen | |
| Land zu hören, und spätestens dann stecken wir in großen Schwierigkeiten. | |
| Und ich vermute, daß es bereits so weit ist.“ | |
| Joan Didion, die kalifornische Tochter, war ein Mensch, der sich das | |
| Zaudern und Zweifeln, die renitente Weigerung zu radikaler Parteinahme und | |
| das Unbehagen vor Umbrüchen leisten konnte – aus ihrer Sicht wohl: leisten | |
| musste, um nicht kaputtzugehen. Sie hatte Angst davor, dass die Mitte nicht | |
| hielt, vielleicht, weil ihre eigene Mitte nicht hielt. | |
| Didion war unbestechlich, aber erschütterbar. Als Essayistin machte sie | |
| verlässlich kurz vorm Solipsismus kehrt, um hinter großen | |
| Sonnenbrillengläsern zurück aufs irdische Geschehen zu blicken. In dieser | |
| Zwischenwelt zwischen wolkiger Sentimentalität und Klarsicht, in der es oft | |
| einsam gewesen sein muss, lebte die Schriftstellerin Joan Didion. Sie wurde | |
| am 5. Dezember 1934 in Sacramento geboren und verstarb am 23. Dezember 2021 | |
| in Manhattan, der Stadt, in deren Taxis noch immer viele junge Menschen um | |
| ihren Traum weinen. | |
| 24 Dec 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Julia Lorenz | |
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