Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Monteverdi trifft Joan Didion: Vom Festhalten und Loslassen
> Bekannt wurde Christopher Rüping als Theaterregisseur. Nun inszeniert er
> an der Bayerischen Staatsoper „Il ritorno/Das Jahr des magischen
> Denkens“.
Bild: Die Trauer wird zum verbindenden Element in „Il Ritorno/Das Jahr des …
Ein nackter Raum und darin Menschen an einem Tisch. Ab und an schauen sie
in den Zuschauerraum des Münchner Cuvilliéstheater, ein
Rokokoschatzkästchen. Denn gleich geht sie los, die zweite Premiere beim
„Ja, Mai“-Festival der Bayerischen Staatsoper. Bislang deutet nichts auf
der Bühne auf große Oper hin, dafür alles auf Christoper Rüpings
Begegnungstheater, das immer das gemeinsame Hier und Jetzt betont. Diesmal
in „Il Ritorno d’Ulisse in Patria“, Claudio Monteverdis frühbarocke Vers…
der Heimkehr des Odysseus.
Der [1][Hausregisseur am Schauspielhaus Zürich] ist mit seinen 37 Jahren
bereits ein Sprechtheater-Star. Dass er jetzt Oper macht, verwundert – und
doch wieder nicht. Einerseits ist so eine Oper ein Klotz, die Partitur muss
umgesetzt, nicht kollektiv befragt werden, weshalb Rüping auch ablehnte,
als der Intendant der Bayerischen Staatsoper das erste Mal bei ihm
anklopfte. Andererseits wurde die Musik für ihn zuletzt immer wichtiger.
[2][Sarah Kanes] dunkles Poem „Gier“, das im März in Zürich Premiere hatt…
hat er als eine Art Kammerkonzert mit Streichern und Stimmen inszeniert und
fast zur Gänze kompositorisch gedacht. An die Oper hat sich Rüping
zumindest schon angeschlichen, als er [3][Necati Öziri]s “Ring des
Nibelungen“ inszeniert hat: ohne eine Zeile oder einen Ton Wagner, auf der
Bühne nur die marginalisierten Nebenfiguren. Das Ensemble hat nebenher
Kerzen gegossen, so dass am Ende jede:r ein Lichtlein mit nachhause nehmen
konnte.
Ja, Rüpings Sehnsucht nach dem Lagerfeuer, wie er es nennt, trägt ihn
manchmal in Richtung Kitsch davon. Auch in der Oper hat er so ein Feuer
glimmen sehen – das im Falle von Monteverdis „Ritorno“ seit fast vier
Jahrhunderten Menschen anlockt. Die Idee, mal zu schauen, was uns da heute
noch wärmt, hat ihn dann doch interessiert.
## Opernmagie trifft auf analytische Prosa
Wie fast immer hat er sein eigenes Untersuchungskomitee dabei: Sibylle
Canonica vom benachbarten Residenztheater sowie Wiebke Mollenhauer und
Damian Rebgetz, mit denen Rüping seit seiner Münchner Zeit an Matthias
Lilienthals Kammerspielen verbunden ist.
Ihr Untersuchungsbesteck ist [4][Joan Didions 2005 erschienener
essayistischer Roman „Das Jahr magischen Denkens“], in dem die
amerikanische Schriftstellerin ihren gedanklichen Verrückungen nach dem
plötzlichen Tod ihres Mannes auf die Spur zu kommen versucht. So tritt denn
gleich Rebgetz mit den ersten Sätzen des Buches an die Rampe: „Das Leben
ändert sich in einem Augenblick. Man setzt sich zum Abendessen, und das
Leben, das man kennt, hört auf.“
Das Scharnier, das analytische Prosa und Opernmagie sowie zeitgenössische
und barocke Erzählweisen verbinden soll, ist eingesetzt! Das macht Sinn,
weil es hier wie dort ums Loslassen respektive Festhalten geht.
Denn auch Penelope in Monteverdis Oper vermisst ihren Mann. Seit Ulisse vor
20 Jahren in den Krieg um Troja zog, wehrt sie sich gegen nervige Freier
und das Leben, zu dem ihre Umgebung sie überreden will. Statt an den
wahrscheinlichen Tod des Vermissten glaubt sie unbeirrt weiter an seine
Rückkehr, während bei Didion das magische Denken – ich hebe seine Schuhe
auf, falls er zurückkommt – permanent mit der Logik im Clinch liegt: Denn
anders als Penelope hat sie ihren Gatten sterben sehen.
## Die Zeit des magischen Denkens ist vorbei
Aus dem dichten Gewebe dieses Textes zieht Rüping nur einige Fäden heraus.
Auch die Oper wird entschlackt, von den streitenden Göttern bleibt
lediglich Minerva übrig. Das Happy End, nachdem Penelope den als Bettler
verkleideten Heimkehrer endlich erkennt, winkt bereits nach zwei Stunden.
In denen gibt es erst nur Schauspiel, dann ganz schön lang nur Oper.
Erst in der letzten Stunde gelingt die Verflechtung von beidem teilweise
wundersam, wenn Kristina Hammarströms Penelope von den drei
Schauspieler*innen praktisch vervierfacht und Charles Daniels mal als
Ulisse und mal als Didions Mann John Dunne adressiert wird. Mehr und mehr
dehnt sich das Spiel ins Parkett aus, wo Mollenhauer sich selbst inmitten
der Zuschauer filmt. Und auch die Erzählstimmen und das von Christopher
Moulds dirigierte Orchester interagieren miteinander.
Kurz: Rüping schlägt Brücken, wo es nur geht: räumlich, zeitlich und
zwischen den Genres. Und setzt trotzdem auf Kontraste: Statt der Magie der
Oper betont das im Erzählen verhaftete Schauspiel das Gemachte. Die
knarzend herab- und hereinfahrenden, teils barockisierenden, teils
gepixelten Prospekte von Jonathan Mertz ähneln halbfertigen
Laubsägearbeiten. Auch richtiggehend albern wird es zwischendurch.
Umso tiefer berührt der Schluss: Penelope und Ulisse sind in ihrer finalen
Umarmung eingefroren, die drei Schauspielenden sehen ihnen dabei zu –
ihre riesigen Gesichter, die Rotz und Wasser heulen, sind auf eine Leinwand
gebannt. Während die zwei auf der Bühne einander festhalten, ist für Joan
Didion, verkörpert von den dreien, die Zeit gekommen, den Glauben an die
Rückkehr des Geliebten fahren zu lassen. Die Zeit des magischen Denkens ist
vorbei, der Applaus groß.
9 May 2023
## LINKS
[1] /Schauspielhaus-Zuerich-und-Coronavirus/!5735256
[2] /448-Psychose-am-Deutschen-Theater/!5654861
[3] /Premiere-von-Get-Deutsch-or-Die-Tryin/!5408187
[4] /Joan-Didion-neu-uebersetzt/!5180402
## AUTOREN
Sabine Leucht
## TAGS
Oper
Prosa
Trauer
Theater
Antike Dramen
Theater
Bayreuther Festspiele
wochentaz
Literatur
Literatur
## ARTIKEL ZUM THEMA
Theater „Ajax und der Schwan der Scham“: Der blutige Tanz der ewigen Zweiten
Christopher Rüping widmet sich am Hamburger Thalia Theater dem antiken
Ajax-Mythos. Er verknüpft ihn mit Fragen nach Leistungsdruck und
Konkurrenz.
„Nahaufnahme“ von Christopher Rüping: Versteckte Bewerbung
Gemeinsame Wege finden ist eine Stärke des Theaterregisseurs Christopher
Rüping. Auch das Publikum nimmt er so mit. Ein Buch stellt ihn vor.
Eröffnung der Festspiele in Bayreuth: Ablenkung vom Zuhören
Jay Scheibs Inszenierung von „Parsifal“ eröffnet die Bayreuther Festspiele.
Mit AR-Brillen sucht er das Erlebnis zu erweitern – und schadet der Musik.
Inklusion in der Schauspielausbildung: Alles spielen können
Yulia Yáñez Schmidt ist die erste Absolventin des Inklusiven
Schauspielstudios Wuppertal. Dort werden Menschen mit Behinderung
ausgebildet.
Buch über ikonische Denkerinnen: Dem Leid mitleidlos begegnen
Deborah Nelson porträtiert sechs ikonisch gewordene Denkerinnen und
Künstlerinnen, die bis heute polarisieren.
Nachruf auf Joan Didion: Schutzheilige der Taxigäste
Sie prägte die US-amerikanische Gesellschaft mit ihren Reportagen und
Essays. Mit ihrem desillusionierten Blick und Trauer. Nun ist Joan Didion
gestorben.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.