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# taz.de -- Eröffnung der Festspiele in Bayreuth: Ablenkung vom Zuhören
> Jay Scheibs Inszenierung von „Parsifal“ eröffnet die Bayreuther
> Festspiele. Mit AR-Brillen sucht er das Erlebnis zu erweitern – und
> schadet der Musik.
Bild: Eröffnung in Bayreuth mit Parsifal, 2. Aufzug. Barbiebunt der Zaubergart…
Vermutlich hätte Wagner die Idee gefallen, seinen „Parsifal“ um eine
digitale Dimension zu erweitern, die den Bühnenraum sprengt. Klingt ja auch
revolutionär. Nicht gefallen hätte ihm sicherlich der Entschluss, das
Publikum des „Bühnenweihfestspiels“ in seinem demokratisch konzipierten
Festspielhaus in eine Zweiklassengesellschaft zu teilen. Nämlich in die nur
330 „happy few“, die in den Genuss der teuren AR-Brillen (für Augmented
Reality) kommen, und den großen Rest derer, die eine herkömmliche, über
weite Strecken eher statische Inszenierung erleben.
Digitale Spielereien sind im Theater ja nichts Neues mehr, die Pandemie
bescherte der [1][Virtual Reality] sogar einen kräftigen Schub. In Bayreuth
aber lässt die AR-Brille nicht in eine vollständig virtuelle Welt
eintauchen, sondern ergänzt das Bühnengeschehen mit assoziierenden Bildern,
die für die Brillenbesitzer den ganzen Raum fluten. Hat man nach Anpassung
und Einweisung die schwere und schnell drückende Brille einmal auf der
Nase, überlagern die unablässig fliegenden Objekte das durch die Brille
abgedunkelte Bühnengeschehen.
Zuerst flattern nur ein paar weiße Gralstauben etwas schwerfällig umher,
dann beginnt das Trommelfeuer der Bilder: Ein funkelnder Sternenhimmel, der
sich in tanzende Glühwürmchen verwandelt, ist noch die ruhige Variante,
alsbald kommen Objekte in hohem Tempo auf die Bebrillten zugeflogen,
Schmetterlinge in bedrohlicher Größe, sausende Gesteinsbrocken und grob
gepixelte Abstraktionen. Es gibt auch herzige Lämmlein und beim
Karfreitagszauber einen Fuchs, der auf dem Orchestergraben zu sitzen
scheint und herzhaft gähnt.
## Aus dem Arsenal christlicher Ikonografie
Später bedient Regisseur Jay Scheib sich aus dem Instrumentenkasten der
christlichen Ikonografie mit brennenden Dornbüschen, Schlangen der Sünde,
Lilien der Unschuld, dann erweist er auch den Albtraum-Welten des
Hieronymus Bosch die Ehre, und schließlich flattert
Klimakrisen-Zivilisationsmüll durchs Bild, Plastikflaschen, Batterien,
leere Tüten.
Jay Scheib, ausgewiesener AR-Spezialist am Massachusetts Institute of
Technology (MIT), bombardiert das Brillenpublikum in Bayreuth tatsächlich
vier Stunden lang ohne jede Pause mit Bildern, die zumeist bloß
illustrieren oder eher schlicht kommentieren, was auf der Bühne geschieht.
Wenn Parsifal den Schwan erlegt, wird auf der Bühne mit einem Plüschtier
hantiert, für die Brillenträger kreist ein riesiger Schwan durch den
Himmel, aus dessen Pfeilwunde sich das Blut im hellen Strahl ergießt.
Selten gelingt Scheib ein ironischer Kommentar wie etwa am Schluss des
zweiten Aktes, wenn Klingsors Zaubergarten untergeht und die AR-Brille in
einer kurzen Sequenz das Festspielhaus zusammenbrechen lässt.
Ansonsten ist die Bilderflut ermüdend redundant, zunehmend vorhersehbar,
selten transzendierend und öfters schlicht banal. Viele nehmen nach einer
Weile die Brille immer wieder ab (manche fallen polternd zu Boden), denn
obwohl das Konzept die Erlebniswelt ja eigentlich erweitern will, engt sie
es tatsächlich ein.
Denn man ist so mit dem Wirbel der Bilder beschäftigt, dass man das
Geschehen auf der Bühne eher beiläufig wahrnimmt, zumal da auch noch mit
einer Handkamera eine zweite optische Ebene zu bewältigen ist. Und man hört
viel unkonzentrierter zu als ohne Brille. So, als würde man beim Bügeln
Radio hören.
## Pablo Heras-Casado gelingt ein leichter Wagnerklang
Und das ist unverzeihlich, denn dem Dirigenten Pablo Heras-Casado glückt im
tückischen Festspielhausgraben ein sensationelles Bayreuth-Debüt: Ohne die
üblichen Balanceprobleme gelingt ihm ein leichter, fast moussierender
Wagner-Klang, herrlich transparent mit hörbaren Mittelstimmen und feinsten
Farbverläufen, die Tempi sind flüssig, aber nie hastig, die gefürchteten
Chorballungen – großartig wie immer der Festspielchor – perfekt verzahnt.
Heras-Casado findet einen eigenen Wagner-Ton, befreit von Pathoslast und
Klangschwere, dennoch dramatisch zugespitzt.
Auch das Ensemble ist superb, herausragend Georg Zeppenfelds
sonor-textverständlicher Gurnemanz, auch die beiden kurzfristigen
Einspringer sind hinreißend: Andreas Schager hat die Titelpartie erst vor
zwei Wochen von Joseph Calleja übernommen und singt mühelos mit Mut zu
feinen Piani.
Elīna Garanča hat bei ihrem Bayreuth-Debüt die Kundry kurzfristig
übernommen und meistert die mörderische Partie mit imponierender Eleganz,
ohne jeden Überdruck steigert sie sich zu brennender Intensität. Spätestens
während ihres Dialogs mit Parsifal nimmt man die Brille ab, auch weil die
Close-ups der Handkamera eine Unmittelbarkeit erlauben, die den ganzen
Brillenschnickschnack als überflüssige Spielerei entzaubern, die von echter
Bühnenmagie nichts weiß.
Die Inszenierung ohne Brille bleibt indes dünn: Die von Mimi Lien
eingerichtete Bühne ist zunächst kahl, ein Rundhorizont, Stahlstühle,
schlanke Stelen, ein Wasserbecken für den siechen Amfortas (markant: Derek
Welton), ein Neonstrahlenkranz. Darin geschieht nicht viel, außer dass man
Gurnemanz im Vorspiel mit einem Kundry-Double schmusen sieht.
Klingsors Zaubergartenakt ist Barbie-bunt und nicht weiter bemerkenswert,
stärker dann der letzte Akt, der in einer Zivilisationswüste mit
panzerartigem Schürfgerät spielt. Am Ende erlöst Parsifal die Ritter,
lässt den Gralskelch auf dem Boden zerschellen und rettet auch Kundry. Die
beiden berühren sich im Wasser, um offenbar gemeinsam zu überleben. Dafür
braucht man keine Brille.
26 Jul 2023
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## AUTOREN
Regine Müller
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