| # taz.de -- Salzburger Festspiele: Die Liebe höret nimmer auf | |
| > In Salzburg bringt Karin Henkel Michael Hanekes „Liebe“ auf die Bühne. | |
| > Sie befragt den Stoff nach seinem Wert für medizinethische Debatten. | |
| Bild: Georges (André Jung) zwischen Pflegekräften (Christian Löber, Joyce Sa… | |
| Der Anfang erzählt eigentlich schon die halbe Geschichte. In den | |
| Zuschauerreihen des [1][Salzburger] Landestheaters herrscht noch das | |
| übliche Murmeln und Räuspern samt heftiger Aushandlungsprozesse um | |
| vertauschte Sitzplatznummern, da ist das weiße Bühnenportal schon in ein | |
| diffuses Arbeitslicht getaucht, ohne Spitzen, ohne Schatten, ohne | |
| Zufluchtsmöglichkeiten. Man möchte es „klinisch“ nennen. Es erinnert dara… | |
| wie man sich in den Behandlungsprozeduren der Medizin bisweilen | |
| ausgeliefert fühlt. Vernünftige Einrede hilft nur bedingt dagegen. | |
| Diagnosen und Therapien sind in der Regel zwar hilfreich, dennoch bleibt | |
| ihr objektiver Gehalt der vorläufig ins Ungewisse aufgeschobene Tod. | |
| Das Publikum sieht sich zunächst gespiegelt in einer Projektion. Es wird | |
| vermutlich Gericht halten müssen, aber über wen? Am rechten Bühnenrand | |
| sitzt jemand, zunächst kaum bemerkt, dann immer präsenter. Er klammert | |
| seine Hände in ein weiß bezogenes Kopfkissen, das er bisweilen hinter sich | |
| her schleift wie die Cartoonfigur Linus aus den „Peanuts“ von Charles M. | |
| Schulz das Schmusetuch. Ein psychoanalytisches Übergangsobjekt verbindet | |
| ihn mit dem Liebsten, das es in seinem Leben gab. Zugleich ist es Tatwaffe. | |
| Es ist Georges, einstmals hochangesehener Musikprofessor in Paris. | |
| [2][In „Amour“ (Liebe), dem mit dem Oscar ausgezeichneten meisterhaften | |
| Kammerspiel von Michael Haneke aus dem Jahr 2012], hatte er seine von | |
| Schlaganfällen gezeichnete Frau Anne, im Film entwaffnend gespielt von | |
| Emmanuelle Riva, bis zur Erschöpfung alleine gepflegt und (dann doch) mit | |
| ebenjenem Kissen erstickt. Folgte er schließlich dem Todeswunsch seiner | |
| Frau oder einem Moment uneingestandener Aggression? | |
| Haneke und Jean-Louis Trintignant, der ihn im Film spielte, haben diesen | |
| Georges bewusst vor keinen Gott und kein Gericht gebracht und ihn ins | |
| Verstummen zwischen Tod und Leben entschwinden lassen. | |
| André Jung in der Hauptrolle | |
| Karin Henkel hat in der Koproduktion der Festspiele mit den Münchner | |
| Kammerspielen eine Wiederaufnahme von Georges Fall im Salzburger | |
| Landestheater auf die Bühne gebracht, André Jung nimmt sich seiner Sache | |
| an. Wer, der je einen aussichtslosen Fall hatte oder mit einem | |
| sympathisierte, würde sich jemand anderes als André Jung als Besetzung | |
| dafür wünschen? Was ist dabei zu gewinnen? Der rare Ausnahmefall eines | |
| Absehens von Strafe für den, der schon genug geschädigt ist? | |
| Mit leisem Trotz, der die Resignation längst hinter sich hat, kämpft er an, | |
| nicht jedoch gegen das Sterben in der verwalteten Welt. Artikuliert leise | |
| gegen alles Laute um ihn herum. Wo eine Pflegerin (Joyce Sanhá) in einer | |
| Comedynummer an einer lebensgroßen Gliederpuppe das Anlegen einer Windel | |
| demonstriert, legt er als vergebliche humane Geste behutsam die | |
| herabbaumelnde Holzhand wieder auf die Liege zurück. | |
| Sobald Muriel Gerstners Bühne offenen Einblick gewährt, bilden die sich | |
| nach hinten verengenden weißen Wänden jenen Tunnel der Wahrnehmung, in den | |
| dieser Georges hineingeraten ist. Seinen Prozess erlebt er gleich mehrfach. | |
| Eine Ebene ist ein schmerzliches Reenactment in der Wiedergabe von Hanekes | |
| spröde gehaltenen Filmdialogen. | |
| Dort wo die Sprache im Film bewusst Lücken lässt, in eindringlichen | |
| Plansequenzen das Unbehagen nur umschreibt, zieht Karin Henkels | |
| Inszenierung eine zweite, surreale Ebene ein, die das mutmaßliche | |
| Innenleben des Protagonisten nach außen stülpt. Es ist bevölkert von | |
| lauten, unterschwellig sadistischen Pflegekräften (Christian Löber und | |
| Joyce Sanhá), die allem Unbehagen an der entfremdeten Existenz in der | |
| technischen Zivilisation Ausdruck verleihen. Dazwischen immer wieder | |
| Exkurse, Erklärungen, Zeigetheater, das die Dinge manchmal schon im Voraus | |
| weiß. Vom Kind bis zur Greisin stellen gleich eine Handvoll Darstellerinnen | |
| sowohl die Frau als auch die Tochter des Protagonisten dar. Katharina Bach | |
| durchläuft virtuos wie rastlos diesen Figurenparcours männlichen Begehrens. | |
| Das Leiden der Kreatur | |
| In Michael Hanekes konzentriertem Kammerspiel geht es um den Tod, nicht | |
| als Abstraktum der philosophischen Spekulation. Er zeigt den Tod, wenn auch | |
| diskret in der Materialität dessen, was ihm vorangeht, im Leiden der | |
| Kreatur. Er zeigt das Leiden, das dem Subjekt, das sich nur als | |
| handlungsfähiges Ganzes annehmen kann, zum Skandal wird. | |
| Hanekes Film ist aber auch ein Abgesang auf das elende Leben in den Ruinen | |
| einer Bürgerlichkeit, in der das Sterben – so ganz selbstbestimmt – eine | |
| Privatsache sein soll, die keinen Anspruch auf gesellschaftliche | |
| Solidarität hat. So sind seine vereinsamten Protagonisten im Grunde schon | |
| tot, als sie sich noch bester Gesundheit erfreuen. | |
| Zu „Amour“ bleiben ein Jahrzehnt später manche Fragen. Etwa der Versuch, | |
| sich den heroischen Akt, der dieser Tod auch ist, [3][angesichts einer | |
| steigenden Femizid-Statistik] unter dem Gesichtspunkt der | |
| Geschlechterdifferenz noch einmal genauer anzuschauen. Handreichungen zum | |
| Thema Sterbehilfe wollte Haneke eher nicht geben. [4][Unter dem Druck | |
| aktueller politischer Debatten] bietet Karin Henkel sie dennoch. Vor | |
| einfachen Schlüssen bewahren immerhin Statements von Personen auf der | |
| Bühne, die selbst einmal dem Tode nahe standen oder liebe Menschen in den | |
| Tod begleitet haben. Es bleibt kompliziert. | |
| 2 Aug 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Jedermann-in-Salzburg/!5946173 | |
| [2] /Neuer-Haneke-Film-Liebe/!5083782 | |
| [3] /Expertin-ueber-haeusliche-Gewalt/!5943595 | |
| [4] /Gescheiterte-Suizidhilfe-Gesetze/!5942090 | |
| ## AUTOREN | |
| Uwe Mattheiß | |
| ## TAGS | |
| Salzburger Festspiele | |
| Theater | |
| Bühne | |
| Michael Haneke | |
| Tod | |
| Liebe | |
| Salzburger Festspiele | |
| Oper | |
| Festival | |
| Oper | |
| Bayreuther Festspiele | |
| Salzburger Festspiele | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Salzburger Festspiele: In der Familienfalle | |
| Der Roman „Die Wut, die bleibt“ kommt auf die Bühne – mit Reflexionen ü… | |
| das Geschlechterverhältnis während der Pandemie und plakativen Botschaften. | |
| Salzburger Festspiele: Die Wucht der Chorregie | |
| Christoph Marthaler verzappelt in Salzburg Verdis „Falstaff“. Simon Stone | |
| inszeniert Bohuslav Martinůs „Greek Passion“ hingegen klar. | |
| Impulstanz Festival in Wien: Das Unbewusste tanzt wieder mit | |
| Das Impulstanz Festival in Wien gleicht einem Blick in die Glaskugel der | |
| Branche. Viele Künstler:innen suchen nach posthumanistischen Konzepten. | |
| Aktualisierter „Tannhäuser“ in Bayreuth: Zwischen den Welten | |
| Tobias Kratzers „Tannhäuser“ begeistert in Bayreuth erneut als totales | |
| Theater mit Tiefgang. Am Pult debütiert Nathalie Stutzmann. | |
| Eröffnung der Festspiele in Bayreuth: Ablenkung vom Zuhören | |
| Jay Scheibs Inszenierung von „Parsifal“ eröffnet die Bayreuther Festspiele. | |
| Mit AR-Brillen sucht er das Erlebnis zu erweitern – und schadet der Musik. | |
| „Jedermann“ in Salzburg: Störung mit Ansage | |
| Die diesjährigen Salzburger Festspiele sind eröffntet. Der neue „Jedermann�… | |
| mit Michael Maertens und Valerie Pachner hat es in sich. |