# taz.de -- Impulstanz Festival in Wien: Das Unbewusste tanzt wieder mit | |
> Das Impulstanz Festival in Wien gleicht einem Blick in die Glaskugel der | |
> Branche. Viele Künstler:innen suchen nach posthumanistischen | |
> Konzepten. | |
Bild: Zahme Mänaden bei Benjamin Abdel Meirhaeghe in „Madrigals“ | |
Etwas bewegt sich unter dem sattgrünen Moos. Ganz langsam schlängelt der | |
Arm einer Performerin hervor, eine von vieren, die zwischen Totholz und | |
allerlei Grünzeug liegen. Feuchtes Laub rieselt herab, kleine Wurzelballen | |
vor den Augen richten den Blick nach innen. Die Natur schlägt zurück – nun | |
auch im Tanz. | |
Die Bildsequenzen von der Performance der Salzburger Choreografin Lisa | |
Hinterreithner täuschen. Hier wächst nichts mehr. „This is not a garden“ | |
ist ganz buchstäblich Nature morte, ein Artefakt, das Denkräume öffnet. | |
Restfeuchte und Geruch reichen immerhin aus, um jene „vegetal encounters“ | |
hervorzurufen, die dem Körper von einer „menschlich-pflanzlichen Utopie“ | |
künden. | |
Auch bei Dani Brown stehen Gattungsgrenzen zur Disposition. In „Pressing“ | |
imaginiert die in Berlin lebende New Yorkerin Körperlandschaften „aus | |
menschlichen und nichtmenschlichen Wesen“ von „floraler Üppigkeit“. Die | |
müssen aber erst hervorgebracht werden in einem erhöhten psychophysischen | |
Stoffwechsel von „Neurotransmittern, Hormonen, Körpergeweben und | |
grundlegenden Wünschen“. | |
Ihre wort- und gestenreiche sowie musikalisch akzentuierte Performance | |
heizt mit entblößtem Unterkörper diesen Metabolismus ordentlich an. Eine | |
fröhliche Baubo demontiert die patriarchale Ordnung und die Hierarchie der | |
Körperteile. Der üppige Blumenschmuck der Bühne zeigt sich davon doch | |
ungerührt. Nur ein paar frisch geschlüpfte Schmetterlinge sorgen für | |
poetische Flügelschläge. | |
## Sehnsucht nach ungeformten Ursprüngen | |
Das sind nur zwei Positionen überwiegend jüngerer Choreograf:innen, die | |
beim zu Ende gehenden Wiener Impulstanz Festival in unterschiedlichen | |
Reflexionsgraden am [1][posthumanistischen Zeitgeist] ankoppeln. In der | |
Behauptung, Natur nicht mehr als Objekt zu behandeln, wähnt sich dieses | |
Denken schon nah an ihren Geheimnissen. Dafür sucht es die Antworten auf | |
das, was Gesellschaft an den Körpern, ihrer Verletzlichkeit und ihrem | |
Begehren zurücklässt, gern wieder im Unbewussten einer gemeinsam geteilten | |
Natur. | |
Wo das Soziale und die Deformation der Macht waren, tritt im Diskurs der | |
Sexualität die Sehnsucht nach ungeformten Ursprüngen, aus denen ein | |
vergessen geglaubter überindividueller Elan vital aufsteigt oder, wenn man | |
so will, der „Erdgeist“ eines neuen Jugendstils. | |
Die in Paris lebende und aus Athen stammende Choreografin Lenio Kaklea | |
treibt das Unbehagen an der Kultur in „Agrimi (Fauve)“ auf der Suche nach | |
dem „Ungezähmten“ tief in den Wald der Sinnsuche hinein. Hier verbinden | |
sich „Legenden der Jagd“ mit Assoziationen von Tanz und Sexualität. | |
Das wäre grundsätzlich interessant, repräsentieren doch Artemis | |
beziehungsweise Diana, die Jagdgöttinnen der Antike, ein verborgenes Bild | |
von Sexualität, die noch nicht von der patriarchalen Ordnung formatiert | |
ist, weswegen sie biedere Altphilologen als „jungfräulich“ übersetzen. Was | |
Überschreitung aber vorstellt, endet in beschaulichen Schreittänzen dreier | |
Faunwesen in einem shakespeareschen Sommernachtsidyll. | |
Hatte der belgische Countertenor und Regisseur Benjamin Abdel Meirhaeghe | |
Tage zuvor noch ein mitreißendes Konzert gegeben, sammelt er für | |
„Madrigals“ acht nackte, aber durchweg zahme Mänaden beiderlei Geschlechts, | |
die nur mit dem schwarzen Band ihres Mikrofonsenders um den Oberkörper | |
bekleidet sind, zum „utopischen Ritual“ einer „dionysischen Gemeinschaft�… | |
um ein Lagerfeuer im Wiener Volkstheater. | |
Die Geburt einer neuen Gesellschaft aus dem Atem gemeinsamer Sangeslust | |
weckt mit Livebegleitung und den Prospekten eines barocken Maschinetheaters | |
Schaulust und die bange Frage, ob man die Pforten zu solchen Weihen | |
wirklich durchschreiten möchte. | |
## Private Mythologien | |
Im imaginierten Naturzustand kann die Kreatur nur aus sich herausschreien, | |
auf der Bühne bleibt die Kunst Selbstdarstellung und die Schöpfung privater | |
Mythologien. Luca Bonamore und Lau Lukkarila versprechen in „Lapse and the | |
Scarlett Sun“ einen „metaphysischen Gefühlswirbel“. Das Genderfluide ihr… | |
Gesangsperformance bleibt das seltsame Privatissimum einer | |
Paarkonstellation. | |
„What is at the core of sex?“, fragen Olivia Axel Scheucher, Nick Romeo | |
Reichmann und ihre beiden Mitperformenden in „Fuge Four: Response“, einer | |
Produktion im Wiener Volkstheater, die auch im Heidelberger Stückemarkt | |
vertreten war. Die kursorische Lektüre von politökonomischen Klassikern | |
gibt zum Teil die Antwort selbst. Wo alle Lebensbereiche von Tauschprinzip | |
und Verwertungszwang durchdrungen sind, bleibt auch Sexualität entfremdet. | |
All diese theoretischen Figuren sind bei Impulstanz keine Folge einer | |
kuratorischen Richtungsentscheidung. Mit zugespitzten Programminhalten die | |
Diskurshoheit auf den angesagten Theoriemärkten zu erkämpfen, ist eher | |
die Erhaltungsstrategie kleinerer und marginaler Einrichtungen, wie sie das | |
institutionelle Feld im zeitgenössischen Tanz sonst bevölkern. | |
## Tanz in seiner Gesamtheit | |
Dafür ist das Festival in seiner 40. Ausgabe schlicht zu groß – mit 68 | |
Produktionen, 148.000 Zuschauenden, umfangreichem Film- und | |
Diskursprogramm und den über 120 Kursen zur breiten Partizipation von | |
Tanzinteressierten aller Länder und Befähigungsgrade. In der ästhetischen | |
Ausrichtung ist Impulstanz traditionell vielstimmig, lebt von den | |
Korrespondenzen und Spannungen seiner Programminhalte. | |
Doch das Festival ist seit Jahren auch eine Art von Glaskugel für die | |
Branche, es leistet noch etwas, das in anderen Künsten schon lange nicht | |
mehr möglich ist. Es versucht noch immer erfolgreich das Kunstwollen im | |
Tanz in seiner Gesamtheit im Programm kenntlich zu machen. In diesem Jahr | |
umfasst es ein Spektrum von den Heroen der Postmoderne Lucinda Childs und | |
Robert Wilson über Werkschauen von Protagonist:innen der Entwicklung | |
seit den 1990ern wie [2][Jérôme Bel] und [3][Meg Stuart] bis hin zu | |
aktuellen Produktionen, die unter dem Begriff des Zeitgenössischen immer | |
schwerer einzuordnen sind. | |
Dass in der kleinen, doch vollends aufgeklärten Welt des zeitgenössischen | |
Tanzes neue Mythen entstehen, ist eine neue Erkenntnis. Das ist erst mal | |
weder gut noch schlecht, nur überraschend. War der Tanz doch seit den | |
1990ern die analytischste aller Künste. Hier wurde dem darstellenden Körper | |
alle Selbstverständlichkeit ausgetrieben. Man erforschte minutiös seine | |
gesellschaftlichen Einschreibungen und Identitätskonstitutionen, betrieb | |
die Reflexion der Aufführungssituation, bis kein Stein mehr auf dem anderen | |
blieb. | |
Gegenposition gab es trotzdem. Die Wiener Performerin Akemi Takeya arbeitet | |
weiter an ihrer „Lemonism“-Serie, die sich mit theoretischer Disziplin und | |
hartem Körpereinsatz an der Kunstmoderne seit Duchamp und dem Aktionismus | |
von Yoko Ono bis Marina Abramović auseinandersetzt. Spätestens die | |
Aufführung von „Black Light“, einer Arbeit von [4][Mathilde Monnier] mit | |
acht Tänzerinnen über die subtilen Wirkungen des alltäglichen | |
allgegenwärtigen Sexismus, bringt die Gewissheit zurück, dass es im Tanz | |
doch noch so etwas wie Gesellschaft gibt. | |
## Ein rauschendes Fest | |
Finale Versöhnung von allen mit allem schenkten zwei Wiederaufnahmen und | |
eine neue Arbeit von Trajal Harrell. „Monkey off My Back or the Cat’s Meow�… | |
ist wiederum ein Laufstegstück mit großem Ensemble, wie er es in Zürich | |
während der kurzen Blüte des dortigen Schauspielhauses hat aufbauen können. | |
Auf den klaren Linien Mondrians wird ein rauschendes Fest gegeben, für die | |
Freiheit, eines über den Text der Unabhängigkeitserklärung just in dem | |
Moment, in dem die amerikanische Demokratie auf der Kippe steht. Harrell | |
feiert Sätze, mit denen schwarze Menschen und First Nations nie gemeint | |
waren, deren Freiheitsversprechen aber weit über den Horizont seiner | |
Verfasser hinausweist. | |
8 Aug 2023 | |
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## AUTOREN | |
Uwe Mattheiß | |
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