# taz.de -- Neuer Haneke-Film „Liebe“: Die Erzählung tröstet | |
> Welten voller Niedertracht und schwarzer Pädagogik sind Michael Hanekes | |
> Handschrift. In „Liebe“ geht er einen Weg, auf dem Milde und Güte zähle… | |
Bild: Die Gesten der Zuwendung: Jean-Louis Trintignant und Emmanuelle Riva. | |
Georges, ein Mann um die 80 (Jean-Louis Trintignant), sitzt am Küchentisch, | |
isst Steak mit grünen Bohnen und erzählt seiner Frau Anne (Emmanuelle Riva) | |
eine Geschichte. Als Kind ging er ins Kino und sah einen Film, der von der | |
unglücklichen Liebe eines adligen Mannes zu einer bürgerlichen Frau | |
handelte. Auf dem Heimweg begegnete er einem älteren Jungen, den er | |
bewunderte und dessen Anerkennung er um keinen Preis verspielen wollte. | |
Der Ältere verlangte von Georges eine Nacherzählung des Films. Während | |
Georges redete, geriet er erneut in den Bann des Unglücks, in das sich die | |
Filmfiguren verstrickt hatten. Vor dem Älteren wollte er sich nicht die | |
Blöße geben zu weinen, aber die Rührung übermannte ihn, so heftig wirkte | |
der Film in ihm nach. | |
Wenn „Liebe“ („Amour“), der neue Film von Michael Haneke, in dessen | |
Mittelpunkt Georges und Anne stehen, diese kleine Geschichte birgt, so ist | |
dies sicherlich kein Zufall. Sie ist wie eine Vorhersage, eine indirekte | |
Ansprache ans Publikum: Schaut her, so sehr kann euch ein Film rühren, so | |
mächtig ist das Kino, und wer weiß, vielleicht wird es euch nicht anders | |
gehen als dem kleinen Jungen Georges, sobald ihr einem anderen von „Liebe“ | |
erzählt. | |
## Pädagogischer Eifer | |
Das überrascht, weil der österreichische Filmemacher Michael Haneke sonst | |
dafür bekannt ist, unbarmherzig auf seine Figuren zu schauen. Zärtlichkeit, | |
Rührung und Empathie machen sich in seinen Filmen rar. Es herrscht darin | |
ein pädagogischer Eifer, dem sich auszusetzen bisweilen weder Vergnügen | |
noch Erkenntnis bringt. | |
Im Extremfall, etwa in „Funny Games“ (1997) und in dessen Doppelgängerfilm | |
„Funny Games U.S.“ (2007), streift dieser Eifer die schwarze Pädagogik, da | |
Haneke sein Publikum zunächst mit Suspense und mit den Schauwerten des | |
Horrorkinos ködert, bevor er ihm per Verfremdungseffekt zu verstehen gibt, | |
wie verwerflich es ist, sich auf das Spektakel aus Demütigung und Sadismus | |
einzulassen. Das ist eine Medienkritik, die das Kritisierte zunächst | |
aufwändig in Szene setzt, um dann umso schärfer damit ins Gericht zu gehen. | |
Haneke selbst macht keinen Hehl daraus, in einem ausführlichen, als Buch | |
veröffentlichten Gespräch mit dem Journalisten Thomas Assheuer sagt er: | |
„’Funny Games‘ spielt zynisch mit dem Zuschauer, weil der Film ihm sagt: … | |
bekommst die Ohrfeige zu Recht, weil du drin bleibst.“ | |
Im glücklichen Fall, so in „Caché“ (2004), sind Ohrfeigen nicht nötig; d… | |
Ungerührtheit und die Kälte der mise en scène sind stattdessen Mittel, auf | |
der Leinwand ein dichtes Geflecht aus persönlicher und historischer Schuld | |
entstehen zu lassen. Eine Filmfiktion, die das arrivierte Pariser Bürgertum | |
mit der kolonialen Vergangenheit Frankreichs konfrontiert, kann leicht in | |
moralische Belehrung münden, doch solch eindeutiger Lesbarkeit verweigert | |
sich „Caché“. | |
## Unerschrockene Manöver | |
Dennoch bleibt Hanekes Methode, fiktive Welten voller Niedertracht zu | |
entwerfen, problematisch, denn es ist ja immer der Regisseur, der diese | |
Welten so und nicht anders anordnet. Der Schwarz-Weiß-Film „Das weiße Band�… | |
(2009) ist, den vielen Auszeichnungen zum Trotz, voll von dieser | |
Ambivalenz. | |
Handelt es sich hier um die Vivisektion autoritärer Strukturen in einer | |
Dorfgemeinschaft an der Schwelle zum Ersten Weltkrieg? Oder doch eher um | |
eine Ballung von Gemeinheit, die Haneke vor allem deshalb so zuspitzt, | |
damit er sich selbst umso unerschrockener durch sie hindurchmanövrieren | |
kann? Selbstredend tut er dies mit großer Virtuosität; auf Bildgestaltung | |
und auf die Kunst der Ellipse versteht er sich ausgezeichnet, ganz zu | |
schweigen davon, dass er die Schauspieler stets zu beeindruckenden | |
Leistungen antreibt. | |
Dabei dichtet gerade diese Virtuosität seine Filme zusätzlich gegen | |
Einwände ab; wenn es in diesen Tagen noch einen Filmemacher gibt, der die | |
auktoriale Position ungebrochen für sich in Anspruch nimmt, dann ist das | |
sicherlich Michael Haneke – und zwar im Doppelsinne: einmal, insofern er | |
die Tradition des europäischen Autorenkinos fortschreibt, zum anderen, | |
insofern er sich gegenüber seinem Publikum als Autorität behauptet. | |
Umso erstaunlicher ist der Wandel, den er mit seinem jüngsten, in Cannes | |
mit der Goldenen Palme ausgezeichneten Film „Liebe“ vollzieht. Obwohl der | |
Tod seine Schatten vorauswirft, waltet in diesem Kammerspiel nicht die für | |
den Regisseur so charakteristische Unerbittlichkeit, sondern Güte, Milde | |
und die titelgebende Liebe. | |
## Unaufhaltsamer Verfall | |
„Der Salzstreuer ist leer“, sagt eines Morgens Georges zu Anne, doch die | |
blickt stumm ins Leere. Auf direkte Ansprache reagiert sie nicht, nicht auf | |
die Berührung mit einem feuchten Tuch und nicht auf das Schnipsen von | |
Georges’ Fingern vor ihrer Nase. Die Absence steht am Beginn eines | |
unaufhaltsamen Verfalls, Anne erleidet einen leichten Schlaganfall, bei | |
einer Operation geht etwas schief, ein weiterer Anfall folgt. Viel später | |
sitzt die Tochter des Paares (Isabelle Huppert) im Salon ihrem Vater | |
gegenüber, und fragt, wie es nun weitergehe. Er antwortet: „Wie es | |
weitergeht? So wie bisher. Und dann wird es schlimmer. Und dann ist es | |
vorbei.“ | |
Die Anfälle selber, den Krankenhausaufenthalt, die Operation, die Diagnosen | |
der Ärzte – all das verbannt Haneke ins Off des Films. Die Zeit | |
verstreicht, man erkennt es daran, dass die Figuren zunächst Wolle, dann | |
Baumwolle und Leinen tragen und dann wieder zur Wolljacke greifen. Oder | |
daran, dass die Zugehfrau sagt, die Erdbeeren auf dem Markt seien | |
verdorben, deswegen habe sie keine mitgebracht. | |
Die Wohnung wird so sorgfältig gefilmt, dass man einen Grundriss von ihr | |
zeichnen könnte, noch während man den Film sieht. Zur Hofseite liegen | |
Küche, Kammer, Bad und Klo, ein großes Fenster im Flur geht auf den | |
Lichtschacht, zur Straße liegen die drei großen Räume: der Salon mit dem | |
Flügel, das kaum benutzte Esszimmer, das Schlafzimmer. | |
## Sorgsamkeit als ästhetische Qualität | |
So sorgsam, wie Haneke und der Kameramann Darius Khondji die Wohnung | |
vermessen, so sorgsam ist Emmanuelle Riva in ihrer Darstellung des | |
körperlichen Verfalls. Keine übertriebene Geste, keine übertriebene Mimik, | |
Lebensmut und Resignation wechseln. Nach dem ersten, leichten Anfall etwa | |
sieht man, wie sie im Flur ihren neuen Rollstuhl testet und dabei freudig | |
die Bewegungsmöglichkeiten entdeckt, dann aber stürzt sie beim | |
verzweifelten Versuch, allein aufzustehen, und Georges muss ihr zurück ins | |
Bett helfen. | |
Gegen Ende des Films lässt Rivas Spiel offen, wie es um die kognitiven | |
Fähigkeiten der Figur bestellt ist. Funktioniert Annes Gehirn noch wie | |
früher, während ihr Körper ihr das Sprachvermögen längst verwehrt hat? Oder | |
vegetiert sie nur mehr vor sich hin? | |
Obwohl auch Georges nicht mehr im Vollbesitz seiner Kräfte ist, kümmert er | |
sich rührend um seine Frau, etwa wenn er sie stützt, nachdem sie auf der | |
Toilette war, oder wenn er ihr Brei zu essen gibt wie einem Kleinkind. | |
Manchmal schlägt die selbstlose Zugewandtheit in Überforderung und | |
Aggression um, Haneke verzeichnet die Nuancen in dieser Beziehung mit | |
großer Subtilität. | |
Einzig bei den Nebenfiguren geht er es ein wenig schematisch an. Die | |
Tochter ist allzu ungeduldig und auf sich fixiert; eine Pflegerin führt | |
sich auf aufdringliche Weise unsensibel auf, noch dazu bürdet Haneke ihr | |
die Aufgabe auf, die Klassenfrage zu stellen. Von dort bis zur bloßen | |
Indienstnahme der Figur ist es nicht weit. | |
## Den Zugang zum eigenen Leben verlieren | |
In einer Szene schaut die Kamera aus nächster Nähe auf die Gemälde, die | |
diese bürgerliche Wohnung zieren, Landschaftsstudien in Öl, auf den meisten | |
drängen sich die Wolken, ist der Himmel grau, beugen sich die Bäume im | |
Wind. Diese leeren, kalten Landschaften sind Unheilsboten, sicher, aber sie | |
sind noch mehr: ähnlich den vielen Büchern und CDs in den Regalen sind sie | |
Fenster zu einer Welt, zu der die gelähmte Anne keinen anderen Zugang mehr | |
hätte. | |
Kunst, Musik, Literatur sind nicht nur Abzeichen eines bildungsbürgerlichen | |
Lebenswandels, sie geben tatsächlich so etwas wie Schutz. In einer Szene, | |
Anne liegt im Bett und stöhnt unaufhörlich „mal, mal, mal“, „schlecht, | |
schlecht, schlecht“, beruhigt sie sich, als Georges beginnt, ihr eine | |
Geschichte zu erzählen: Die Erzählung tröstet. | |
Obwohl „Liebe“ überaus genau ist, bleibt der Film den Registern | |
realistischen Abbildens nicht verhaftet. Einige Szenen muten fantastisch | |
an. Einmal etwa setzt Haneke einen Alptraum Georges’ in Szene, was man erst | |
spät merkt, ein anderes Mal lässt er eine Taube durch den Flur flattern, | |
was sowohl auf einer realistischen als auch auf einer metaphorischen Ebene | |
funktioniert. Und in den letzten fünf Minuten von „Liebe“ verbeugt sich der | |
Regisseur dann noch einmal besonders tief vor der Kraft der Fantasie. Mag | |
die Einbildungskraft auch nicht imstande sein, den Tod zu überwinden, eine | |
Lücke in seine Unerbittlichkeit zu reißen, das vermag sie sehr wohl. | |
## „Liebe“. Regie: Michael Haneke. Mit Jean-Louis Trintignant, Emmanuelle | |
Riva, Isabelle Huppert u. a. Frankreich u. a. 2012, 126 Min. | |
19 Sep 2012 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
Cristina Nord | |
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