# taz.de -- Regisseur Gaspar Noés Film „Vortex“: „Das Alter ist ein Kamp… | |
> „Vortex“ ist ein Film über das Sterben. Der Regisseur spricht über | |
> Endlichkeit, Arbeiten im Lockdown und Horrormeister Dario Argento als | |
> Schauspieler. | |
Bild: Getrennte Leben, geteiltes Bild: Sie (Françoise Lebrun) und Er (Dario Ar… | |
„Für alle, deren Hirn sich früher zersetzen wird als ihr Herz“, lautet die | |
Widmung gleich zu Beginn von „Vortex“, dem neuen Film von Gaspar Noé, und | |
sie setzt den Ton für eine unerwartet menschlich reife Auseinandersetzung | |
mit dem Alter, dem Loslassen und dem Sterben. Der argentinische | |
Skandalregisseur („Irreversibel“) zeigt in seinem berührenden Porträt ein | |
altes Ehepaar am Ende seiner Tage (Françoise Lebrun und Dario Argento), das | |
wie [1][Michael Hanekes Film „Liebe“] fast ausschließlich im Pariser | |
Appartement der Protagonisten spielt. Doch der filmische Ansatz ist bei Noé | |
ein anderer: Die Leinwand teilt sich in zwei nebeneinander stehende | |
Bildrahmen, eine Kamera folgt dem Mann, die andere seiner zunehmend | |
dementen Frau und beobachtet, wie sich die beiden langsam verlieren. Zum | |
virtuellen Gespräch schaltet sich der 56-Jährige aus seiner Wohnung in | |
Paris zu. | |
taz: Monsieur Noé, Sie haben sich für unseren Videocall gerade als „Fritz | |
Lang“ eingeloggt. Warum das? | |
Gaspar Noé: Ich möchte im Netz nicht als „Gaspar Noé“ auftauchen. Ich ha… | |
so viele merkwürdige Fans, darunter ein paar richtige Stalker, da trete ich | |
lieber unter Pseudonym auf. Und weil ich besessen bin von Fritz Lang als | |
Regisseur, überhaupt vom expressionistischen Film des Weimarer Kinos. | |
Eines Ihrer Idole, den [2][italienischen Giallo-Filmer Dario Argento | |
(„Suspiria“)], besetzten Sie auch als eine der beiden Hauptfiguren in Ihrem | |
neuen Film. | |
Ich blickte immer ein bisschen neidisch auf Filmemacher, die es geschafft | |
hatten, andere Regiekollegen als Darsteller vor die Kamera zu holen. | |
Jean-Luc Godard hatte Fritz Lang in „Die Verachtung“ besetzt, Billy Wilder | |
zuvor Erich von Stroheim in „Boulevard der Dämmerung“, Pasolini drehte | |
einen Film mit Orson Welles. Ich träumte schon lange davon, einmal mit | |
Dario zu drehen. | |
Warum ausgerechnet mit ihm? | |
Ich lernte Dario vor etwa 30 Jahren kennen, als ich beim Toronto-Filmfest | |
meinen ersten 40-Minüter „Carne“ vorstellte. Dario war begeistert davon und | |
wollte mich bei der Produktion meines ersten Langfilms unterstützen. Daraus | |
ist dann zwar nichts geworden, aber wir freundeten uns an. Mir fiel immer | |
wieder auf, wie charismatisch er ist, wenn er seine Filme vorstellt oder | |
Interviews gibt. Er ist ein geborener Entertainer und Comedian, er weiß | |
sein Publikum zu begeistern. Umso mehr überraschte es mich, dass ihn vor | |
mir noch nie jemand gefragt hat, in einem Film mitzuspielen. Nur in seinen | |
eigenen Filmen war er bislang zu sehen. Oder besser gesagt: seine Hände. | |
Wenn ein Mord geschieht, eine Frau stranguliert oder erstochen wird, ist | |
meist Dario selbst am Werk. | |
Auch Ihre bisherigen Filme wie „Menschenfeind“ oder [3][„Climax“] waren | |
wenig zimperlich, was Grenzüberschreitungen und Gewaltdarstellungen angeht | |
… | |
Und Dario mochte sie alle sehr, sie waren ein Grund, warum er für „Vortex“ | |
zusagte, auch wenn er zunächst protestierte, als ich ihm die Geschichte des | |
alten Paares erzählte: „Ich bin doch gar nicht alt!“ Aber es interessierte | |
ihn dann doch, er hatte gleich viele Ideen, wie man die Figur komplexer | |
machen konnte. Er kam nach Paris, lernte seine Filmpartnerin Françoise | |
Lebrun kennen und es war schnell klar, dass die beiden wunderbar | |
harmonieren. Das war sehr hilfreich, weil ein Großteil des Films | |
improvisiert ist. | |
„Vortex“ ist nun eine überraschende Abkehr von Ihren bisherigen | |
Provokationen. Wie kam es dazu? | |
Ich hatte mehrere Gründe, mich mit dem Thema Sterben zu beschäftigen. Vor | |
acht Jahren wurde meine Mutter dement und ich begleitete sie bis zu ihrem | |
Tod. Mein alter Freund Philippe Nahon, der in vielen meiner Filme | |
mitgespielt hatte, starb im April 2020 an Covid, nachdem er zuvor schon | |
lange krank war. Auch der Vater meiner Freundin starb durch die Pandemie. | |
Diese Erfahrungen haben mich erschüttert, ich dachte viel über das Leben | |
und den Tod nach. Altwerden kann gnadenlos und grausam sein. Krankheiten | |
kann man überleben, aber das Alter ist ein Kampf, den man am Ende immer | |
verliert. Man muss sehr mutig sein, sich dem zu stellen. | |
Waren Ihre eigenen gesundheitlichen Probleme auch ein Grund? | |
Vor zwei Jahren hatte ich eine Hirnblutung, die einige Tage lang | |
lebensbedrohlich war. Es war ein Albtraum, weil nicht klar war, ob ich | |
überleben würde, ob es irreparable Schäden gibt. Aber ich hatte großes | |
Glück, ich gehöre zu den 15 Prozent, die ein solches Hämatom ohne bleibende | |
Beeinträchtigungen überleben. Das hat mir die Augen geöffnet. Ich habe | |
aufgehört zu rauchen, ich nehme keine harten Drogen mehr, ich trinke sehr | |
viel kontrollierter. Ich lebe gesünder. | |
Und Sie haben ein erstaunlich empathisches Kammerspiel über das Sterben | |
gedreht. | |
Die Idee, die Handlung fast ausschließlich in der Wohnung spielen zu | |
lassen, hatte auch mit dem Lockdown zu tun. Auf eine Art kann ich mich mit | |
allen drei Charakteren identifizieren, der dementen Frau, dem | |
filmbesessenen Ehemann, aber auch mit ihrem erwachsenen Junkie-Sohn. Aber | |
die Geschichte ist nicht autobiografisch, auch wenn ich einige Situationen | |
so oder ähnlich erlebt habe. Wir alle müssen uns früher oder später mit dem | |
Alter und Sterben auseinandersetzen, in jeder Familie, ganz egal in welchem | |
Land oder aus welcher Schicht wir stammen. | |
Sie inszenieren die Handlung als Splitscreen, eine Kamera folgt der Frau, | |
die andere dem Mann. Wie kam es zu dieser Entscheidung? | |
Mir gefiel die Idee, das Geschehen simultan aus zwei Perspektiven zu | |
erzählen. Aber ich wusste anfangs nicht, ob ich diese Aufteilung der | |
Leinwand in zwei Bilder durch den gesamten Film benutze, oder nur für | |
einzelne Szenen, wie einen Gimmick. Letztlich fällt nun nur der Prolog aus | |
dem Konzept, den wir ganz am Ende drehten. Wir wollten damit einen Moment | |
des Glücks zeigen, als es dem Paar noch gut geht, bevor ihnen das Leben | |
langsam entgleitet. | |
Der Film endet mit einer Sequenz, in der die Wohnung ausgeräumt wird … | |
In den letzten Jahren musste ich selbst einige Wohnungen auflösen, dieser | |
Anblick hat sich mir eingebrannt. Als ich die Gehirnblutung hatte und mir | |
gesagt wurde, dass ich sterben könnte oder zumindest mit schweren | |
bleibenden Schäden rechnen muss, dachte ich nicht an meinen Tod, sondern | |
vor allem: Was passiert mit all meinen Büchern? Was mit den Filmplakaten? | |
Ich kann noch nicht sterben, ich muss mich erst um all das Zeug kümmern! | |
Das kann ich niemandem einfach so zurücklassen. | |
Wie würden Sie später selbst gerne in Erinnerung bleiben? | |
Darüber mache ich mir keine Gedanken. Aber mein Vater hat kürzlich | |
aufgeschrieben, dass er in einem Sarg in die Familiengruft auf dem Friedhof | |
in Buenos Aires will und nicht wie meine Mutter kremiert werden. Da wurde | |
mir klar, dass ich auf keinen Fall in eine Kiste will. Meine Asche soll in | |
alle Winde verstreut werden. | |
Wie haben Sie die Erfahrungen der letzten Jahre verändert? Wie blicken Sie | |
in die Zukunft? | |
Ich plane nichts, ich handle instinktiv. Ich weiß noch nicht, was als | |
Nächstes kommt. Nur eins ist gewiss: Ich will mich nicht wiederholen. | |
Sind Sie reifer geworden? | |
Hören Sie bloß auf! Auch ich bemerke natürlich Zeichen des Alters. Als ich | |
zum ersten Mal nicht mehr entziffern konnte, was auf meinem Handydisplay | |
stand, bekam ich einen richtigen Schreck. Und ich werde schneller betrunken | |
als früher. Viel schneller. | |
28 Apr 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Neuer-Haneke-Film-Liebe/!5083782 | |
[2] /Kinotipp-der-Woche/!5815684 | |
[3] /Climax-von-Gaspar-Noe/!5553607 | |
## AUTOREN | |
Thomas Abeltshauser | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Spielfilm | |
Sterben | |
Demenz | |
Altern | |
Kolumne Kinderspiel | |
Spielfilm | |
Cannes | |
Musik | |
Französischer Film | |
Film | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Nachdenken über das Sterben: Der Tod wohnt im Zimmer nebenan | |
Trost kann helfen, den Tod zu verarbeiten. Doch unsere Autorin ist beim | |
Denken ans Sterben mittlerweile untröstlich, seitdem sie eigene Kinder hat. | |
Regisseurin über „An einem schönen Morgen“: „Leben und Film sind verzah… | |
Die Regisseurin Mia Hansen-Løve spricht über Abschied und authentisches | |
Erzählen in ihrem Film „An einem schönen Morgen“. Schreiben schmerzt sie | |
oft. | |
Beginn der Filmfestspiele von Cannes: Bilder aus dem Kampfgebiet | |
Die 75. Filmfestspiele von Cannes haben begonnen. Bei der ersten regulären | |
Ausgabe nach der Pandemie spielt auch der Krieg eine zentrale Rolle. | |
US-Sängerin Bonnie Raitt über Aktivismus: „Verpflichtung, sich einzubringen… | |
Bei den Grammys wurde Bonnie Raitt jüngst für ihr Lebenswerk geehrt. Ein | |
Gespräch über ihre Karriere – und warum Musik und Aktivismus für sie | |
zusammengehören. | |
Film von Gaspar Noé auf DVD: Hexen, überall Hexen | |
In „Lux Æterna“ sprechen Béatrice Dalle und Charlotte Gainsbourg über | |
zudringliche Männer und Hexen. Sie spielen sich dabei selbst, aber als | |
Fiktion. | |
„Climax“ von Gaspar Noé: Irre Tanzchoreografien auf Droge | |
Gaspar Noé will in seinem jüngsten Spielfilm „Climax“ allein in Bildern | |
denken. Die Kamera lässt er dabei vollkommen die Balance verlieren. | |
Neuer Haneke-Film „Liebe“: Die Erzählung tröstet | |
Welten voller Niedertracht und schwarzer Pädagogik sind Michael Hanekes | |
Handschrift. In „Liebe“ geht er einen Weg, auf dem Milde und Güte zählen. |