# taz.de -- „Climax“ von Gaspar Noé: Irre Tanzchoreografien auf Droge | |
> Gaspar Noé will in seinem jüngsten Spielfilm „Climax“ allein in Bildern | |
> denken. Die Kamera lässt er dabei vollkommen die Balance verlieren. | |
Bild: Tanzen, bis die Polizei kommt: „Climax“ | |
Psyche (Thea Carla Schott) ist der Name einer jungen Tänzerin. Sie spricht | |
Englisch und ist hier in der Minderheit. Doch wird sie wie alle ihren Teil | |
zum Höhepunkt beitragen. In Gaspar Noés neuem Film, „Climax“, feiert sie | |
gemeinsam mit ihrer Tanztruppe die Endprobe eines neuen Stücks und dreht | |
auf Drogen völlig durch. Schauplatz ist die Turnhalle einer französischen | |
Schule, und es gibt auch ein Kind, das eine wichtige Frage stellen wird: | |
„Wie heftig kannst du lachen?“ | |
In Noés Film kommt die Sprache nur selten nach, selbst in ihren wildesten | |
Ausformungen. Herumschreien und [1][harte Gewaltrhetorik] tun sich schwer, | |
mit den unberechenbaren Bewegungen der hippen Horde mitzuhalten. Als | |
Affront gegen politische Realitäten herrscht über die sonderbaren Windungen | |
dieses Films letztlich nur die entfesselte Kamera. Gaspar Noé und sein | |
Kamermann Benoît Debie wollen in Bildern denken. | |
Am Anfang steht eine Zäsur, ein Prolog wie eine Mauer: Noé zeigt das Ende | |
zuerst, ähnlich wie in „Irreversible“. Dann türmen sich filmische Verweise | |
auf die Geschichte des extremen Kinos als VHS-Kassetten in einem Regal. Sie | |
rahmen einen kleinen Monitor. | |
Im Bild wird gesprochen, über Kunst und die Grenzen des Machbaren. Die | |
teilnehmenden Tänzerinnen und Tänzer sollen in einer Castingsituation | |
erzählen, wie weit sie für ihre Visionen und ihre Karriere gehen würden. | |
Manche haben schon erlebt, dass der Kulturbetrieb übergriffig sein kann. | |
Andere wollen sich erst noch erforschen, Betrieb hin oder her, mit allen | |
Mitteln. | |
## Freude an Schabernack und an der Geschmacklosigkeit | |
Eine lange Einstellung, die neben der Einführung aller Beteiligten | |
Gesichter genug Zeit bietet, Filmtitel von Pier Paolo Pasolini, Lucio Fulci | |
oder Andrzej Żuławski zu studieren – und darüber zu grübeln, warum Noé s… | |
in „Climax“ filmhistorisch ein weiteres Mal auf die exakt gleiche Weise im | |
männlichen Autorenkino verortet, wie seit Jahren in Interviews. Die Zeit | |
der Rückversicherung ist für den Fünfzigjährigen an sich lange vorbei. Mit | |
öffentlichen Angriffen auf seine extremen filmischen Entwürfe ist Noé gut | |
vertraut und legt heute eine gewisse Entspanntheit an den Tag. | |
Unter den VHS-Videos findet sich auch „Suspiria“ von Dario Argento, derzeit | |
als tolle Neuinterpretation von Luca Guadagnino im Kino zu sehen. Ein | |
psychedelischer Horrorfilm über eine Tanzschule, in der Hexen ihr Unwesen | |
treiben, durch und durch verziert mit kitzelnden psychedelischen Klängen. | |
Noés Film wirkt in seiner Freude am Schabernack und an der | |
Geschmacklosigkeit, in seiner euphorischen Hinwendung zu Klang, Ritual und | |
Musik wie das interessantere Remake des Hexenschockers. Wie ein Remake, das | |
keine Worttreue benötigt und doch kaltschnäuzig bis schleimig | |
unterschlagene gesellschaftliche und sexuelle Gewalt verhandeln will. | |
„Wenn du den Tanz eines anderen tanzt, schaffst du dich nach dem Bild | |
seines Schöpfers neu“, meint Tilda Swinton bei Guadagnino und spricht damit | |
aus, was bei Noés neuem Film als Programm erscheint: Nach seinen Ausflügen | |
in die Tiefe und Verbindlichkeit des Qualitätskinos [2][bei „Love“] und | |
„Irreversible“, wendet sich Noé in „Climax“ begeistert einem ästhetis… | |
Geschmiere zu, das jedoch nur während der Tanzszenen Kraft entwickelt und | |
sonst frustrierend lieblos mit Figuren hantiert. | |
## Unerwartet entzückende Leichtigkeit | |
Wenn getanzt wird, überträgt sich Noés schamlose Begeisterung für Gewalt, | |
Exzess und Widerstreit in eine unerwartet entzückende Leichtigkeit. Tanz | |
spielt hier mit Territorialdenken, mit dem Geben, Nehmen, Einnehmen, | |
Aushebeln und Ablehnen von Körper und Raum. In den Gruppenchoreografien | |
wirkt es, als könne sich Noé in diesem Film von seiner Grobschlächtigkeit | |
als Ultra-Hetero-Regisseur endlich einmal befreien – bis die nächste | |
Dialogsituation alle Hoffnung auf Befreiung wieder mit einer | |
schablonenartigen Provokation verspielt. | |
Noé war abgesehen von One-Linern nie ein guter Schreiber. In Klassiker wie | |
„Zeit zerstört alles“ reihen sich nun Sätze wie „Geboren werden ist eine | |
einmalige Chance“ oder „Leben ist eine kollektive Unmöglichkeit“ ein. Der | |
Mann liefert. | |
Die Kamera verliert die Balance und folgt doch großmütig dem weißen | |
Chauvinisten, der eigentlich nur geliebt werden will. Nazi sein wird zur | |
Fremdzuschreibung aus Hass und zum bloßen Missverständnis verklärt. | |
Schwangerschaft wird Mittel zum Tabubruch und das Utopische zum Spielball. | |
Amerika taugt als Zielscheibe, als Aufhänger für kulturelle Kriegsbegriffe | |
und Vehikel zur Kritik an französischem Elitismus. | |
Noé manipuliert politische Kampfbegriffe herbei und spielt sie | |
gegeneinander aus, arbeitet in der Beschleunigung seines Films stets | |
musikalisch, nie didaktisch. Am Ende hat nur Substanz, was direkt und | |
unverdünnt übers Auge läuft. | |
„Climax“ entpuppt sich als Noés ehrlichster Film und bringt ihn damit auf | |
neue Art in eine Umlaufbahn zu einigen seiner Vorbilder. Ein Künstler, der | |
seine Privilegien nutzt, um mit Nutzbarmachung und Dreck zu spielen. | |
Einfach Exploitation. | |
6 Dec 2018 | |
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## AUTOREN | |
Dennis Vetter | |
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