# taz.de -- Berlinale, Tag 4, Was bisher geschah: Körperkino und Diskursfreude | |
> „Woche der Kritik“ heißt eine diskursfreudige Gegenveranstaltung zur | |
> Berlinale. Dort wurde extremes Körperkino gezeigt. | |
Bild: Philippe Grandrieux rührt in „Malgré la nuit“ an die Grenzen der Be… | |
Dass sich Regisseur und Schauspieler umarmen, wenn sie nach einer | |
Vorführung vor das Publikum treten, ist obligatorisch: Vertrautheit | |
markieren gehört zum Geschäft. Hier jedoch ist etwas anders, was nicht nur | |
daran liegt, dass wir uns im Kino Hackesche Höfe bei der „Woche der Kritik“ | |
befinden. Die letztes Jahr vom Verband der Filmkritik ins Leben gerufene | |
„Woche“ versteht sich als diskursfreudige Gegenposition zur offiziellen | |
Berlinale,- dem demonstrative Professionalismus ist heruntergefahren, die | |
Stimmung ist familiär. | |
Nein, wenn der französische Regisseur Philippe Grandrieux nach der | |
Vorführung von „Malgré la nuit“ seine Schauspielerin Ariane Labed in den | |
Arm nimmt, dauert das lange, ist intensiv, innig: Zwei Schicksalsgenossen, | |
die was hinter sich gebracht haben. | |
Labed zittert am ganzen Leib. Sie habe den Film gerade selbst zum ersten | |
Mal gesehen, sagt sie, und fühle sich nun sehr nackt, auch weil das so | |
intensiv für sie gewesen ist – die Vorführung, wohlgemerkt. Noch eine halbe | |
Stunde später, sehe ich von der ersten Reihe aus, spielt sie nervös mit den | |
Fingern, die vor Aufregung so rot sind wie zuvor im Film in einer besonders | |
intimen Szene. | |
## Im Körper weiterarbeiten | |
Über den Abspann hinaus bildet dieser Film ein Kontinuum: Dazu passt, dass | |
die Autorin Pamela Pianezza im anschließenden Gespräch anmerkt, dass | |
Grandrieux Rahmungen jeglicher Art überschreitet. Auch der Regisseur selbst | |
versteht seine Filme nicht fixiert, sondern als Impulsstifter. | |
Körperkino – das ist ein Kino, das in den Körper fährt, dort | |
weiterarbeitet, wie an Labed zu sehen. In der Diskussion spricht der | |
Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger auch von „performativem Kino“. | |
Grandrieux rührt an die Grenzen der Belastbarkeit seines Publikums und | |
seiner Schauspieler. | |
Was sich auf dem Papier wenig interessant liest – „Malgré la nuit“ hande… | |
von Liebesverstrickungen junger Franzosen mit einem guten Schuss | |
Sadomasochismus –, ist in der Umsetzung eine mitunter frei improvisierte | |
Digitalkino-Meditation über Intimität und körperliche Texturen. Als hätte | |
der verkiffte Sexfilm-Freejazzer Jess Franco einen Digitalfilm mit Gaspar | |
Noé gedreht. Ariane Labed geht bis zum Äußersten, gibt sich der | |
Extreme-Close-up-Kamera bemerkenswert preis. | |
## Das Herzflimmern eines Ungeborenen | |
Die mobile Kamera entspricht dabei sichtlich einem körperlichen Impuls des | |
Regisseurs: Beim Sprechen wechselt er ständig ins körperliche Register: Das | |
Herzflimmern eines Ungeborenen wird bei ihm zum mit den Fingern markierten | |
Ursprung des Kinos. Biedere Buchhalter-Drehbücher braucht er nicht, sagt er | |
und läuft mit Händen vorm Gesicht umher, um zu zeigen, wie seine Kamera | |
nach Stimmungen und Material der äußeren Wirklichkeit giert. Spricht er vom | |
Wind, tönt ein „Schuschuuu“ aus ihm. | |
All sein Schaffen rühre von den Impulsen des Lebens her, erzählt er und | |
lacht. Da will was raus aus diesem Körper, den er ebenfalls Strapazen | |
aussetzt: Die letzten 24 Stunden habe er in Flugzeugen und auf Flughäfen | |
zugebracht, um hierher zu kommen. Applaus. „Fuck“, sagt er dann. Und „I�… | |
tired“ hinterher. Perfektes Schlusswort. | |
14 Feb 2016 | |
## AUTOREN | |
Thomas Groh | |
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