# taz.de -- Hackesche Höfe in Berlin: Reste eines Aufbruchs | |
> Das Chamäleon Theater in Berlin-Mitte behauptet sich als kulturelle | |
> Pionierinstitution in den Hackeschen Höfen – und setzt auf | |
> zeitgenössischen Zirkus. | |
Bild: So ein Zirkus | |
BERLIN taz | Die Hackeschen Höfe im Herzen Berlins wirken derzeit | |
verlassen. Nur wenige und meist kleine Menschengruppen tröpfeln durch die | |
einmalige Anlage, die acht Jahre vor dem Ersten Weltkrieg in prachtvoller | |
Jugendstilornamentik eingeweiht wurde. | |
Der Berlintourismus stockt pandemiebedingt. Und weil die | |
[1][Berliner*innen die Höfe] schon lange den Tourist*innen | |
überlassen haben, herrscht dort jetzt eben Leere. In den Schaufensteraugen | |
der Taschenläden und Kleiderboutiquen, die aus den blank gewienerten | |
Kacheln der Hofwände hinausschauen, spiegelt sich kaum ein Gesicht. | |
Das ist eine späte Rache. Denn wer jetzt in den Höfen sein Geschäft | |
betreibt, war oft ganz direkt Vertreiber und Verdränger derjenigen, die die | |
Höfe erst wieder lebenswert gemacht hatten, die mit ersten Performances vor | |
dem Hintergrund der Trabis der alten Autowerkstatt überhaupt Menschen in | |
die grau verputzten Labyrinthe lockten. | |
Jetzt werden im einstigen Spielort des Hackeschen Hoftheaters hochpreisige | |
Taschen verkauft. Wo sich die Aedes Architekturgalerie befand, die | |
versuchte, den Diskurs über besseres, ästhetisch ambitionierteres und | |
zugleich an den Bedürfnissen der Bevölkerung ausgerichtetes Bauen in die | |
Stadt zu tragen, kann man jetzt Teller mit dem Design der Warhol’schen | |
Madonna erwerben. | |
## Vom Varieté zum Zirkus | |
Gehalten immerhin hat sich das Chamäleon Theater. 1990 räumten ein paar | |
Enthusiasten den alten Festsaal im zweiten Stock des Quergebäudes frei und | |
machten im Februar 1991 provisorisch ein Varieté auf. Das Publikum strömte, | |
aus den umliegenden besetzten Häusern, aus der wachsenden Galerieszene, | |
internationales Partyvolk. Die Mitternachtsshows wurden zum Nonplusultra – | |
erst ins Chamäleon, danach in Technoklubs wie Tresor und WMF. Das Berghain | |
gab es damals noch nicht. | |
Mit den Jahren hat sich das Chamäleon gewandelt. An die Stelle von Varieté | |
ist zeitgenössischer Zirkus getreten: eine Fusion aus Narration und | |
Akrobatik. „Nicht mehr das Spektakel steht im Vordergrund. Vielmehr dient | |
das artistische Können der Geschichte, die an dem Abend erzählt wird“, | |
beschreibt Anke Politz, seit mittlerweile einer Dekade künstlerische | |
Leiterin des Chamäleon, gegenüber taz die Charakteristika von | |
zeitgenössischem Zirkus. | |
Aktuell tritt hier der französische Cirque Le Roux mit seiner Show [2][„The | |
Elephant in the Room“] auf. Man sieht Menschen in Kostümen, die an die | |
Gründungsjahre der Hackeschen Höfe vor mehr als hundert Jahren erinnern, | |
Handstände vollführen und Salti schlagend durch die Luft des historischen | |
Festsaals fliegen. Erzählt wird die Geschichte von Miss Betty, die dem | |
Luxus zu entkommen versucht und Abenteuern aller Art zugeneigt ist. | |
Getreu seiner Geschichte als Pionierinstitution in den Hackeschen Höfen | |
versucht das Chamäleon auch, das noch recht junge Genre des | |
zeitgenössischen Zirkus auf stabilere Füße zu stellen. Ein Residenzprogramm | |
wird entwickelt. Die Gastspielreihe „Play“ gibt jüngeren Künstler*innen | |
Aufführungsmöglichkeiten. Zudem ist das Chamäleon Mentor an der Staatlichen | |
Artistikschule in Berlin. Das alles ist ein Zeichen, dass der alte Geist | |
noch lebt, auch in edel restaurierter Umgebung. | |
## Nebenan das alte Berlin | |
Wer noch mehr Atmosphäre des Berlin der 1990er Jahre einatmen will, muss | |
eine Hofeinfahrt weiter gehen. Am Café Cinema vorbei, noch 1990 kurz vor | |
der Wiedervereinigung eröffnet, biegt man in den schmalen Schlauch der | |
hintereinander gestaffelten Höfe der Rosenthaler Straße 39 ein. An den | |
rohen Hauswänden befinden sich zahlreiche Graffiti und dicke Schichten aus | |
Plakaten der letzten drei Jahrzehnte – eine Art Freiluftmuseum [3][für die | |
Anarchie der Nachwendezeit] in Berlin-Mitte. | |
Auch so eine Volte der Geschichte ist, dass sich dort tagsüber inzwischen | |
mehr Touristen aufhalten als im benachbarten großen Hofareal. | |
28 Mar 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Ein-Loblied-auf-den-Berliner-Hinterhof/!5777879 | |
[2] https://chamaeleonberlin.com/de/shows/the-elephant-in-the-room/ | |
[3] /Der-letzte-Freiraum-in-Berlin-Mitte/!5583795 | |
## AUTOREN | |
Tom Mustroph | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Stadtland | |
Berlin-Mitte | |
Schwerpunkt Gentrifizierung in Berlin | |
Nachwendezeit | |
Zirkus | |
Berlin Kultur | |
Festival | |
Theater | |
Schwerpunkt Stadtland | |
ITB | |
taz-Adventskalender | |
Schwerpunkt Berlinale | |
Reiseland Deutschland | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Zirkusreihe „Play“ im Berliner Chamäleon: Der große Bruder Schwerkraft | |
Wie Artistik entsteht, ist auch eine Sache der Produktionsbedingungen. Das | |
Chamäleon in Mitte arbeitet mit den Spielarten des zeitgenössischen Zirkus. | |
Festival „Zeit für Zirkus“: Die Evolution auf dem Laufband | |
Im Festival „Zeit für Zirkus“ entwickeln Artisten neue Formen des | |
Erzählens. Kunst und Theater rücken näher, soziale Schieflagen werden zum | |
Thema. | |
Forum Freies Theater in Düsseldorf: Landkarten der Aufstände | |
Das Forum Freies Theater in Düsseldorf feiert den Einzug in ein neues Haus. | |
Ein Festival widmet sich der Pariser Kommune und Ideen von Gemeinschaft. | |
Neue Erlebniswelt im Tierpark Berlin: Im Spielzeuggebirge | |
Wandern im Himalaya? Geht auch gemütlich an der Spree. Genauer gesagt im | |
Berliner Tierpark, wo es nun eine künstliche Berglandschaft gibt. | |
Internationale Tourismusbörse in Berlin: Raus aus der Werbeschleife | |
Die ITB steht vor der Tür: Wie wird der Tourismus in Berlin nach der | |
Pandemie aussehen? Ein Plädoyer für weniger Marketing und mehr | |
Tourismuspolitik. | |
taz.berlin-Adventskalender (9): Hipster-Engel in Neukölln | |
Immer diese Touristen, ständig stehen sie im Weg. Doch dann stolpert unsere | |
Autorin in Neukölln über ihre eigenen Vorurteile. | |
Berlinale, Tag 4, Was bisher geschah: Körperkino und Diskursfreude | |
„Woche der Kritik“ heißt eine diskursfreudige Gegenveranstaltung zur | |
Berlinale. Dort wurde extremes Körperkino gezeigt. | |
SEHENSWÜRDIGKEITEN: Individueller Selbstbetrug | |
Die Masse hat nicht immer recht, sie liegt aber auch nicht immer falsch. | |
Ein Plädoyer für das ganz gewöhnliche Programm |