# taz.de -- Zirkusreihe „Play“ im Berliner Chamäleon: Der große Bruder Sc… | |
> Wie Artistik entsteht, ist auch eine Sache der Produktionsbedingungen. | |
> Das Chamäleon in Mitte arbeitet mit den Spielarten des zeitgenössischen | |
> Zirkus. | |
Bild: Eine Körperpyramide der australischen Zirkuscompagnie Gravity & Other My… | |
Das Jahr ist noch jung, die Kultur noch ein wenig im Winterschlaf. [1][Im | |
Chamäleon in den Hackeschen Höfen] aber startet eine neue Reihe: „Play“ | |
präsentiert die Vielfalt der Spielarten des [2][zeitgenössischen Zirkus]. | |
Ab 3. Januar zeigen zehn Compagnien und Einzelkünstler*innen aus | |
Australien, Argentinien, Mexiko, den USA, Frankreich, Spanien, | |
Großbritannien, Irland und Deutschland Arbeiten, die Elemente von Jonglage, | |
Körperakrobatik und Luftartistik, aber auch Clownerie, Performancekunst und | |
Objekttheater miteinander verbinden. Sechs Wochen lang. | |
Wer Körperpyramiden baut, muss Nähe mögen. Eine gute Stunde lang stehen | |
Alyssa Moore und ihre Kolleg*innen der australischen Zirkuscompagnie | |
Gravity & Other Myths in der Show „A Simple Space“ auf- und übereinander. | |
Sie schleudern sich in die Höhe, stehen Fuß auf Kopf, gelegentlich sogar | |
Fuß auf Schädeldecke und bauen auf diese Art und Weise dreistöckige | |
Menschenpyramiden. | |
„Am Ende der Show hast du 50 % eigenen Schweiß an dir, und 50 % ist der | |
Schweiß der anderen. Das ist schon speziell“, sagt Moore der taz und lacht | |
dabei fröhlich. „Danach gibt es ja eine schöne Dusche“, wirft Kollege Kev… | |
Beverley ein. | |
## Körperakrobatik ist Proletenjob | |
Wasser aus dem Duschkopf verdienen sich die acht Performer*innen jede | |
Nacht redlich. Körperakrobatik ist der Proletenjob im | |
Bewegungskunstbetrieb. Wer bei den Pyramiden unten steht, muss gegen die | |
Schwerkraft von zwei anderen Körpern über ihm ankämpfen. Wer durch die Luft | |
gewirbelt wird, muss sich darauf verlassen, dass die Hände der anderen sie | |
am Ende der Luftfahrt noch an den Knöcheln zu packen bekommen. | |
„Das tut manchmal ordentlich weh“, gibt Moore zu. Missen möchte sie das | |
alles aber nicht, weil eben auch das Fliegen dazu gehört. „Das ist | |
fantastisch, für Momente die Schwerkraft nicht mehr zu spüren“, schwärmt | |
sie. | |
„Schwerkraft und andere Mythen“ lautet der Name der Compagnie. Das bedeutet | |
nicht, dass die Akrobat*innen die Schwerkraft leugnen. Aber ihr Spiel | |
besteht darin, der Gravitation immer mal wieder zu trotzen. „Sie ist eine | |
Herausforderung für uns. Es ist ein Spiel, in dem es für uns darum geht, | |
herauszufinden, was wir in der Zeit, in der wir in der Luft sein können, | |
alles anfangen können. Da geht es natürlich gegen die Schwerkraft“, | |
sinniert Beverley – und kommt dann zu dem Schluss, dass die Schwerkraft | |
auch ein großer Bruder sei, mit dem man herumspiele, dem man Zeit und | |
Tricks abluchse. | |
Die Show „A Simple Space“, mit der die „Play“-Reihe eröffnet wird (3.-… | |
Januar), besteht aus vielen solcher Tricks. Eingebettet sind kleine | |
Wettbewerbe der Performer*innen. Wer kann am weitesten springen? Wem geht | |
am ehesten die Luft aus: Beim Atemanhalten oder beim Saltischlagen? Dieser | |
Wechsel aus Höchstleistung und unverstelltem Spieltrieb ist prägnantestes | |
Merkmal der Show. | |
## Mit Humor, Selbstironie und aufblasbaren Plastikelementen | |
Humor und Selbstironie sind ohnehin Charakteristika der noch recht jungen | |
Kunstform zeitgenössischer Zirkus. Der US-amerikanische Jongleur Wes Peden | |
etwa überfordert sich in seiner Show „Rollercoaster“ (13.–15. Januar) | |
permanent. Zwischen aufblasbaren Plastikelementen, die an Überreste einer | |
Achterbahn erinnern, hält er Unmengen von Bällen, Keulen und Ringen in der | |
Luft. | |
Die Kölner Compagnie Hippana.Maleta hat sich in „Runners“ (17.–19.Januar) | |
das Jonglieren auf andere Weise erschwert. Die Performer stehen auf | |
Laufbändern, die mal zuckeln, mal aber auch rasen. | |
Mit stereotypen Männerbildern im Umkleideraum operieren hingegen die famos | |
durchtrainierten Akrobaten der argentinischen Compagnie Un Poyo Rojo, die | |
Ende des Monats kommt. Ihr Stück kam schon 2010 heraus und gilt in der | |
Szene als Kultperformance. Chamäleon-Chefin Anke Politz hat es schon lange | |
auf ihrer Lieblingsliste. Ins Programm des Theaters passte es aber aus | |
logistischen Gründen nicht hinein. | |
„Unsere Shows sind meist vier, fünf Monate hier, weil häufigere Umbauten | |
für uns vor allem finanziell wegen der damit verbundenen Spielpausen nicht | |
machbar sind“, erzählt Politz. Doch weil die Liste ihrer in Berlin deshalb | |
nicht gespielten Lieblingsshows von Jahr zu Jahr immer länger wurde und | |
weil auch die Spielbedingungen während der Pandemie ein Umdenken mit sich | |
brachten, entstand das Programmfenster „Play“. | |
„Wir wollten mehr Vielfalt zeigen. Und dann führten die Hygieneauflagen im | |
ersten Lockdown dazu, dass eigentlich niemand physisch ohne Maske auf der | |
Bühne mit anderen arbeiten durfte oder nur Leute, die aus einem Haushalt | |
kommen. Wir haben uns dann genau solche Stücke ausgesucht, vor allem | |
Solostücke und Duette“, sagt Politz. | |
Nach mehreren Verschiebungen – auch Pandemie bedingt – eröffnet die Reihe | |
nun endlich am 3. Januar. Sie soll perspektivisch zu einem wichtigen | |
Baustein im Produktionszyklus des Chamäleon werden. Es profilierte sich in | |
den letzten Jahren durch Koproduktionen und Auftragsarbeiten für Werke des | |
Zeitgenössischen Zirkus. Räume zum Proben wurden zur Verfügung gestellt. | |
Die Berliner Compagnie Raum 305 etwa erarbeitete ihre abstrakt-meditative | |
Produktion „Wir wollen nie nie nie“ (20.-22.1.) zu wesentlichen Teilen im | |
Chamäleon. | |
## One Woman Show und Trapezkunst | |
Der Trapezkünstler Moritz Haase und der Puppenspieler Jarnoth steigen darin | |
aus engen Kästen und erobern die horizontale Bühnenoberfläche, Haase | |
schließlich auch die Vertikale am Trapez. Eine dialogische Spiegelebene | |
führt Jarnoth mit einer Puppe ein, die wie eine kleinere Ausgabe der beiden | |
Performer wirkt. | |
Auch eine frühe Arbeitsphase von „Julieta“ (3.–5. 2.) fand im Chamäleon | |
statt. In dieser One Woman Show erzählt die Clownin Gabriela Muñoz – | |
angelehnt an die Geschichte ihrer eigenen Großmutter – die Biografie einer | |
sehr eigenwilligen alten Frau. Es handelt sich um eine nahe am Theater | |
angesiedelte Arbeit in der „Play“-Reihe. „Julieta“ entstand – auch da… | |
eine Rarität in den Produktionsverhältnissen des zeitgenössischen Zirkus – | |
im Rahmen einer Online-Konferenz. | |
„Wir hatten dort eine Arbeitsgruppe mit Vertretern von etwa einem Dutzend | |
Produktionshäusern zum Thema Auftragsarbeiten. Ein Kollege aus New York | |
hatte damals noch Fördergelder übrig. Wir beschlossen, Künstler*innen | |
anzusprechen, dass sie Konzepte einreichen. Wir haben ihnen den Weg der | |
Idee vergütet. Für mich ist es wichtig, dass künstlerische Arbeit nicht | |
erst im Moment der Aufführung vergütet wird“, sagt Politz. Muñoz reichte | |
damals ein Konzept ein, entwickelte es weiter und probte längere Zeit im | |
Chamäleon. | |
Den Probenbetrieb will Politz perspektivisch zu einem Residenzprogramm | |
ausbauen. Auf der Plattform „Play“ können dann kleinere Arbeiten oder auch | |
Zwischenergebnisse aus dem Residenzprogramm gezeigt werden. Die größeren | |
Arbeiten kommen in den regulären Spielbetrieb für vier bis fünf Monate. | |
„Play“ ist nicht nur wegen der Vielfalt der Positionen reizvoll. Die Reihe | |
kann auch eine Schlüsselrolle in der weiteren Entwicklung des | |
zeitgenössischen Zirkus hierzulande spielen. | |
International hat sich das Chamäleon längst einen Namen gemacht. „Vor fünf | |
Jahren konnten wir nur träumen, mal am Chamäleon zu spielen. Jetzt sind wir | |
schon mit der dritten Show dort, und fühlen uns einfach zu Hause“, sagte | |
Jacob Randall, Mitgründer von Gravity & Other Myths. Für viele | |
Berliner*innen ist das Chamäleon noch ein weitgehend unentdecktes | |
Juwel. „Play“ bietet grandiose Gelegenheit zum Kennenlernen. | |
2 Jan 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Hackesche-Hoefe-in-Berlin/!5841138 | |
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## AUTOREN | |
Tom Mustroph | |
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