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# taz.de -- Festival „Zeit für Zirkus“: Die Evolution auf dem Laufband
> Im Festival „Zeit für Zirkus“ entwickeln Artisten neue Formen des
> Erzählens. Kunst und Theater rücken näher, soziale Schieflagen werden zum
> Thema.
Bild: Ein gelungenes Beispiel für die narrativen Qualitäten des zeitgenössis…
Köln taz | Der zeitgenössische Zirkus wird urban. Im Glaskasten des Hauses
der Architektur mitten in Köln bereitet [1][Benjamin Richter sein
Jonglage-Projekt „Taktil“] unter den Augen zahlreicher obdachloser Menschen
vor. Der Platz rings um den markanten Glas-Beton-Würfel ist zumindest
nachts Heimat mancher Wohnungsloser. Geruchsschwaden von Urin weisen auf
nur notdürftig gestillte Bedürfnisse hin. Manche Menschen, die noch ihre
Schlafutensilien mit sich tragen, schauen jetzt durch die Fenster. Einer
applaudiert sogar, als Richter weiße Holzquader geschickt balanciert und
daraus fragile Türme baut.
Richter, praktizierender Jongleur sowie Wissenschaftler an der
[2][Zirkusuniversität Stockholm], verkörpert par excellence die neue
Zirkuskultur. Die zeichnet sich durch den „nonhuman turn“ aus. Der beruht
auf dem Willen, sich vom anthropozentrischen Charakter bei der Jonglage zu
entfernen. „Es ging nicht mehr darum, dass der Jongleur im Mittelpunkt
steht, mit seinen Fertigkeiten, die Objekte virtuos in der Luft zu halten.
Vielmehr wurden die Beziehungen zu den Objekten wichtiger“, erzählt
Richter. Es handele sich um eine neue Art, die Welt, die Objekte und
Phänomene wahrzunehmen.
„Der Raum ist auch ein Objekt, hat Qualitäten, die einen Einfluss haben auf
mich als Mensch. Und wenn ich sensibel bin für diese Eigenschaften, dann
kann ich mich davon bewegen lassen“, ergänzt er. Und so neigt er zuweilen
den Oberkörper, wenn er sich einer diagonalen Linie im Raum nähert. Oder er
schlägt im Gehen einen Bogen, wenn ein Weinglas im Weg steht. Seine Objekte
sind ohnehin ungewöhlich. Er balanciert mit einer Hand ein Weinglas, mit
der anderen greift er einen von Wind und Wetter rund geformten Lavastein
aus Island.
Die meisten Objekte im Raum sind aber weiße längliche Quader, Stelen
ähnlich, auf denen in Galerien Kleinskulpturen präsentiert werden. Die
Annäherung an Installationsformen der bildenden Kunst ist Konzept wie auch
das Format der durational performance, das Richter für sein sehr
meditatives Raum- und Objekterforschungsprojekt „Taktil“ gewählt hat.
Zeitgenössischer Zirkus kann aber auch rasant sein und komische Qualitäten
aufweisen. In „Runners“ befinden sich die beiden Performer Jonas Schiffauer
und Pieter Visser auf zwei Laufbändern. Der Musiker Moises Mas García
treibt sie mit seinen Rhythmen und auch der Steuerung der Laufbänder mit
seiner Hand an. Im Laufen, das mal ein gemütliches Joggen, mal ein
schweißtreibendes Rasen sein kann, jonglieren Schiffauer und Visser
zugleich mit Bällen. Sie werfen sie sich auch zu oder schießen sich ab wie
in einem Duell.
## Geschichte und Parodie
Bei dieser Westernparodie, aber auch bei anderen komischen Elementen kommt
die frühere Clownsausbildung der Compagnie-Gründer Schiffauer und Alex
Allison (Letzterer wurde wegen einer Verletzung durch Visser ersetzt)
durch.
„Runners“ erzählt über Körperformen, immer verbunden mit Jonglageübunge…
die klassische Evolutionsgeschichte des Menschen, vom gebückt laufenden
Hominiden über den Homo sapiens bis hin zu dem oft überforderten
Ausbeutungsobjekt der Industriegesellschaft, das am Fließband sitzt, zu dem
das Laufband dann wurde. „Runners“ ist ein gelungenes Beispiel für die
narrativen Qualitäten des zeitgenössischen Zirkus.
Das bundesweite Festival „[3][Zeit für Zirkus“] verschafft ihnen nun mehr
Aufmerksamkeit. „Runners“ wurde etwa in Kooperation mit der studiobühnekö…
gezeigt. In Köln sind insgesamt neun Orte beteiligt, nur einer davon ist
eine klassische Zirkusspielstätte.
In insgesamt elf Städten in Deutschland findet das bis [4][Sonntag gehende
Festival] statt. Zentren sind Köln und Berlin mit sechs Spielorten,
darunter dem [5][Zirkuspionier Chamäleon]. Die Programme in beiden Städten
sind zumindest zeitlich aufeinander abgestimmt. Shuttleservice wie etwa
bei der Langen Nacht der Museen oder der Langen Nacht der Theater gibt es
aber nicht. „Das wäre ein Ziel, aber dazu braucht es extra Geld“, betonen
sowohl Chamäleon-Chefin Anke Politz als auch die Kölnerin Jenny
Patschovsky, Vorsitzende des Bundesverbandes für Zeitgenössischen Zirkus
(BUZZ).
Das Chamäleon beteiligt sich mit dem Gastspiel „Out of Chaos“ der
australischen Compagnie Gravity & Other Myths am Festival. Die Vorführung
ist im Stil einer Nachtwanderung gehalten, eine Exkursion zu dynamischen
und statischen Konstruktionen aus menschlichen Leibern. Wie bei der Kölner
Show „Runners“ strukturiert auch hier die Musik Szenen der Bewegungen.
Klang ist nicht Garnitur, sondern ebenbürtiger Mitspieler, ganz im Sinne
eines Gesamtkunstwerks.
Der zeitgenössische Zirkus erobert zwar immer mehr Bühnen und Orte, muss
aber auch Rückschläge verkraften. In Bochum etwa wurden alle
Veranstaltungen wegen Förderproblemen beim lokalen Veranstalter Projektbüro
Neuer Zirkus Ruhr abgesagt. Auch das mit den lokalen Initiativen verbundene
Projekt einer universitären Ausbildungsstätte für den Zeitgenössischen
Zirkus gerät aktuell in Verzug.
All das ist wiederum weniger existenziell als die Sorgen, die die
obdachlosen Zuschauer*innen in Köln plagen. „Zeit für Zirkus“ machte auf
eine Vielzahl von Problemlagen aufmerksam. Nicht die geringste darunter
waren mit Blick auf die Energiekrise die Heißluftgebläse im Zirkuszelt.
14 Nov 2022
## LINKS
[1] https://vimeo.com/280724939
[2] http://www.fedec.eu/en/members/2-the-department-of-circus-at-stockholm-univ…
[3] /Erste-Nacht-des-Zirkus-in-Deutschland/!5815215
[4] https://zeitfuerzirkus.de/#programm
[5] /Hackesche-Hoefe-in-Berlin/!5841138
## AUTOREN
Tom Mustroph
## TAGS
Festival
Zirkus
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